Markus Gull

Tellst du noch oder sharest du schon?

Während meines Grundwehrdienstes beim Österreichischen Bundesheer hatte ich eine Menge Gelegenheiten, über Seltsamkeiten zu staunen. Eine der harmloseren war das Allheilmittel für die unterschiedlichsten körperlichen Beschwerden: Vaseline! Erstens war diese Crème de la Crème bei uns uniformierten Scherzteufeln im Teenageralter nicht in erster Linie mit Medizinischem konnotiert und provozierte naturgemäß Irritationen und derbe Witze, wenn die gleichfalls uniformierten Ärzte Vaseline als Medikament verschrieben. Nach dem therapeutischen Prinzip „Nützt’s nicht, so schad’s nicht” gab’s Vaseline gegen Blasen an den Füßen und auch gegen sonst alles, wogegen Eincremen mit Phantasie und gutem Willen theoretisch helfen konnte. Was die gute Salbe allerdings praktisch nie tat. Das führte bei uns wackeren Vaterlandsverteidigern wenigstens zur Erkenntnis, dass die Zeit – wenn auch nicht alle – so doch die meisten Wunden heilt.

Storytelling – das perfekte Gleitmittel

Die Vaseline der Marketingkommunikation unserer Zeit scheint mir Storytelling zu sein. Ein Gleitmittel ins Herz der Auftraggeber und auch in so manches andere Zielgebiet. Ein Allheilmittel, mit dem alles und jeder eingecremt wird, ob’s nützt oder nicht.

Wir wissen zwar nicht, was wir tun sollen, aber wir sagen jetzt mal „Storytelling”, hängen noch ein gepflegtes „Narrativ” in unser Therapiegespräch und  eventuell auch ein bedeutungsvolles „Framing”, wenn’s passt, bzw. auch wenn’s nicht passt. Aber Hauptsache Storytelling. Wir müssen als Marke unsere Geschichte erzählen! Überhaupt, wo Snapchat, Instagram und Facebook ein Story-Feature anbieten.

Storytelling – die perfekte Methode 

Storytelling ist eine grandiose Methode, seit Menschengedenken. In der Evolution habe sich der Homo Sapiens gegen den Neandertaler nur deshalb durchgesetzt, sagt man, weil er als Homo Narrans die Fähigkeit entwickelte, Geschichten zu erzählen und damit imstande war, sich, sein Sozialgefüge, die Ernährung und seine Sicherheit und Verteidigung wirkungsvoll zu organisieren. Ich war damals nicht dabei, aber es leuchtet mir ein.

„Whoever tells the best story wins”, heißt es. Die Entwicklung des Homo Sapiens ist ein stichhaltiger Beweis dafür, denke ich, und die atemberaubende (Ver-)Führungskraft von Story-mächtigen Politikern, Religionsgründern und Business-Heroen ebenfalls. Nicht umsonst ist man sich weltweit einig, dass Storytelling eine der wichtigsten Business-Skills unserer Zeit ist.

Storytelling – das falsche Werkzeug

Genauso wie sich die Medienwelt und mit ihr ihre Bewohner rasend schnell und vollkommen verändert haben, so müssen auch wir Marketing-Kommunikations-Leute uns verändern. Rasend schnell und vollkommen. Unser Denken, unser Handeln, unsere Werkzeuge.

Das bedeutet zuerst einmal, wir können uns vom pushigen Verteilen unserer Werbebotschaften für immer verabschieden und stellen von Push auf Pull um: zum magnetischen Storytelling. Ein famoses Werkzeug!

Allerdings ist das Teuflische an Werkzeugen, dass man sie richtig benutzen muss, sonst geht’s schief. Irgendjemand dürft den Griff von Storytelling ziemlich dick mit Vaseline bestrichen haben, denn das gute Teil rutscht ständig aus der Hand und geht treffsicher ins Auge.

Storytelling

Unsere Story interessiert … niemanden

Wenn wir die Idee von Brand-Storytelling als „Wir müssen die Geschichte unserer Marke erzählen” verstehen, dann haben wir sie gründlich mißverstanden. Denn tatsächlich interessiert sich niemand für unser Zeug, so sehr wir auch in die Qualitäten unserer Produkte und Dienstleistungen mit gutem Recht selbstverliebt sind.

Die Menschen interessieren sich einzig und allein für ihren eigenen Kram, wer oder was sie dabei unterstützt damit ihr Leben einfacher, sicherer und genussvoller als bisher wird, was sie also glücklich macht. Am besten alles gleichzeitig, sofort und mit möglichst geringem Aufwand.

Werte – der geheime Verbindungs-Code

Die Menschen suchen nach Gleichgesinnten, denn so erreichen sie ihre Ziele – emotionale wie materielle – am effizientesten. Gleichgesinnte können Personen sein, das können aber auch Marken-Persönlichkeiten sein.

Gleichgesinnte erkennt man nur und ganz eindeutig am gemeinsamen Werte- & Sehnsuchts-Panorama. Wir sind Fans von … Wir lieben … Wir wollen dasselbe haben … Wir wollen dasselbe los werden … Wir beschützen … Wir verabscheuen … Wir lachen über … Wir fühlen uns …

Wir teilen gemeinsame Werte.

Zwei Fallgruben für Storytelling

Storytelling, so wie es allerorten gut eingecremt durch die Buzzword-Schleusen flutscht, fällt in zwei Fallgruben.

  1. Wenn wir die „Geschichten unserer Marke erzählen”, dann geschieht dies wiederum aus einer Position von oben herab, ist also nichts Anderes, als das Werbe-Pushen, nur halt neu eingewickelt. Auch verkleidet geht den Menschen Werbung richtig auf den Sack.
  2. Die Menschen interessieren sich ausschließlich für ihre eigene Geschichte. Eine Marke, die erfolgreich kommunizieren will, kann also nicht von sich erzählen, sondern ausschließlich von ihren Kunden. Die „Geschichten unserer Marke” können wir uns höchstens selbst erzählen.

Eine der ehernen Grundregeln für Filmemacher lautet: „Show, don’t tell”, weil Film eben vor allem ein visuelles Erzähl-Medium ist, im Gegensatz zu zu einem Hörspiel. In Anlehnung an diese Regel stickte meine Großmutter, die alte Story Dudette, den weisen Satz in den Überzug ihres Lieblingskissens: „Share, don’t tell”.

Share, don’t tell!

Wir dürfen Geschichten unserer Marken nicht erzählen, wir müssen die gemeinsame Geschichte unserer Marke und unseres Publikums finden und mit den Menschen teilen. Das gelingt erst, wenn wir die gemeinsamen Werte kennen, die gemeinsamen Sehnsüchte. Was wir lieben, beschützen, verabscheuen, was wir uns wünschen …

Echtes Storytelling bedeutet das Teilen gemeinsamen Werte, deshalb sollten wir Story-Telling vergessen und Story-Sharing betreiben. Jede Story hat ein so genanntes Narrativ, aber nicht jedes Narrativ hat eine Story. Das wird so systematisch verwechselt wie sonst nur Umsatz und Gewinn.

Eine Story, die beides kann – ein wunderbares Narrativ über Werte aufbauen – ist ein aktueller Viral-Hit des norwegischen Familienministeriums, das mit diesem Film auf die Notwendigkeit neuer Kinder-Pflegeheime und Pflegefamilien aufmerksam macht.

 

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Und auch wenn Storytelling mittlerweile als nerviges Buzzword durch jedes Dorf getrieben wird, gilt für jedes Unternehmen, ob jung oder alt: „No Story. No Glory.”

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