Markus Gull

Spoiler Alert: Angeblich verändert sich das Klima.

Stell dir vor, du hast die letzten Jahrzehnte genüsslich unter einem Stein verbracht, kriechst jetzt, wenn’s Frühling wird, darunter hervor und schaust einmal ins Internet, das zwischenzeitlich erfunden wurde, blätterst Zeitschriften durch, die’s noch gibt, siehst dir dort wie da Nachrichten an. Ganz oben auf deiner Liste der gewonnenen Erkenntnisse stehen vermutlich drei Informationen:
1. Die Ukraine wurde von Russland überfallen.
2. In Sachen Klima läuft alles aus dem Ruder.
3. Keith Richards ist offenbar unsterblich.


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Daran schließt sich die große Doppelfrage: Was bedeutet das also, und was ist zu tun?

  1. Die Kriegskatastrophe wird so oder so enden. Wer weiß wann? Wer weiß wie? – Schnell eher nicht, und für ein gutes Ende ist’s längst zu spät.
  2. Die Klimakatastrophe könnte sogar vielleicht noch zu bewältigen sein – irgendwie, mehr schlecht als recht, steht zu befürchten –, und das ist dann eben das Weltwrack, wie wir es Keith Richards hinterlassen werden: ein Planet als Bastlertraum, Albtraum zumal.

Gerade was die Klimasache angeht, setzen sich immer mehr aus der sogenannten Zivilgesellschaft massiv in Bewegung und machen mobil. Kein Tag vergeht, an dem sich nichts rührt. Die Letzte Generation etwa klebt mittlerweile in noch größerer Zahl auf Kreuzungen als Lions-Club-Mitglieder vor ihren Punsch-Hütten im Advent, lässt sich belächeln, beschimpfen und bedrohen, auch verhaften. Beharrlich, mutig, tapfer.

Fridays for Future organisiert mit unbeugsamem, unermüdlichem Engagement weltweit Klimastreiks und vieles, vieles mehr, um … ja, um was denn zu tun? Was denn zu erreichen?

Ich bewundere aus ganzem Herzen alles, was hier im wahrsten Sinne des Wortes auf die Straße gebracht wird. Das ist wirklich grandios. Dennoch fürchte ich, geht ein allzu großer Teil dieses leidenschaftlich geführten Engagements volle Pulle am Ziel vorbei.

Warum? Weil man mit derlei beherzten Bewusstmacher-Aktionen zu den Gläubigen predigt, nur halt umgekehrt. Das zeigte sich mir bei der weltweiten Kampagne, die Fridays for Future zum Earth Day lancierte wieder einmal überdeutlich. Unter dem Slogan „Earth is no toy“ werden die G20-Staatsoberhäupter als Kinder dargestellt, welche die Erde als Ball in ihren Händen halten, um sie daran zu erinnern, dass auch sie einmal Kinder waren, sagen die verantwortlichen Macher*innen.

 

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Fred & Farid

 

Die Kampagne kommt zauberhaft daher, finde ich, bleibt aber leider völlig nutzlos – denn was wird sie bewirken? Wird eine*r der angesprochenen G20-Pilot*innen innehalten, angestoßen vom Gedanken: „Moment – stimmt! Ich war ja auch einmal ein Kind, und ich sollte nicht mit dem Planeten spielen, sapperlot. Gut, dass mir das endlich jemand sagt!“

Oder wird jemand aus diesem Kreise durch die Kampagne auf das Thema Klimakrise erstmals aufmerksam werden und sich nun umgehend damit beschäftigen?

Wir kennen die Antwort, oder?

Das Problem ist nicht, dass die Verantwortlichen über die Klimakrise zu wenig wissen, sondern dass sie zu wenig tun – so unfassbar viel zu wenig, dass man „nichts“ dazu sagen kann, wenn man die spindeldürren Ergebnisse des knieweichen Handelns besieht, das vom stupiden Dualismus „Wohlstand oder Umwelt“ getragen wird. Also von einer überkommenen „Wir gegen die Anderen“-Erzählung, in der jeweils wir die Guten sind, und somit jede*r gegen jede*n ist. „Jeder für sich und Gott gegen alle“, lautet der Kampfschrei in der Ver-Kasperhauserisierung unseres Zusammenlebens.

Angesichts der „Earth is no toy“-Kampagne kommen mir die revolutionären (Werbe-)Sujets von Benetton in den Sinn, unter denen zum Beispiel vor dreißig Jahren das Bild eines sterbenden AIDS-Patienten plakatiert wurde, um „auf das Thema aufmerksam zu machen“, als gäb’s keine Nachrichten.

Über Sinn und Effekt von Kampagnen wie diese würde der legendäre Creative Director William S. aus Stratford-upon-Avon bestenfalls „Much ado about nothing“ sagen, oder: „heiße Luft“, um im Klima der Metaphernwelt zu bleiben. Auch so Werbung halt.

Was wäre denn wirklich zu tun?

Nun, damit sich etwas ändert – damit sich Bewusstsein und Verhalten ändern –, muss sich die Geschichte ändern, die man sich darüber erzählt. Das war noch nie anders und gilt fürs private Persönliche ebenso wie für Narrative von Unternehmen und Gesellschaften. Wenn die große Erzählung einer Gesellschaft aus dem Ruder läuft, läuft die Gesellschaft aus dem Ruder, wie figura zeigt. Und wenn wir an Weltkatastrophen wie die von den Nazis angerichtete denken, dann erkennen wir, dass dies brandgefährlich ist.

Aber es geht selbstverständlich auch ins Positive: Demokratie- und Bürgerrechtsbewegungen etwa illustrieren das durch den Lauf der Menschheitsgeschichte: „I have a dream!“

Voraussetzung dafür ist, dass die Geschichte relevant ist, stimmt und von den richtigen Leuten gut erzählt wird.

Wenn heute über notwendige Maßnahmen zur Klimarettung gesprochen wird, dann geht es um Leid, Entbehrung, Verzicht und Verlust – um das, was nicht mehr sein kann, darf oder nicht mehr geht. Bitte, wer soll denn das gut finden? Wer soll denn hier dabei sein wollen?

Wie wär’s aber, wenn wir das machen, das Einzige machen, was jemals positive Veränderung bewirkt hat: nämlich nicht das Bestehende bekämpfen, sondern eine neue Perspektive, eine neue Option aufzeigen – den Traum von einer besseren Welt?

Wie wär’s, wenn Politiker*innen – die G20er*innen und alle anderen auch – nicht strukturell ihren Beruf schwänzen, sondern das tun, was ihr Job ist, und der ist doch zweifellos, Gesellschaften anzuführen, oder? Würde das geschehen, läge doch der Gedanke nahe, den die Kennedys gerne von George Bernard Shaw borgten: „Viele sehen die Welt, so wie sie ist, und fragen ‚Warum?‘ Ich träume von einer Welt, die noch nie da war, und frage ‚Warum nicht?‘“

Wäre es also nicht lohnender, anstatt Verzicht, Verlust und Verzweiflung an die Wand zu malen, die Geschichte von der Befreiung vom Zuviel zu teilen? Davon zu erzählen, was wir alles gewinnen würden, jede*r Einzelne von uns und wir alle miteinander? Das Bild von einer Welt auszumalen, in der wir nicht mehr von den Dingen besessen werden, von denen wir besessen sind, sie zu besitzen, sondern „love people, use things“ aufs Banner zu schreiben, wie es Bischof Fulton J. Sheen bereits vor hundert Jahren auf den Punkt brachte.

Und es ist hoch an der Zeit, dass wir die fetzendoofe Geschichte eingraben, die „das Überleben des Menschen am Planeten Erde“ verzapft. Der Mensch ist Bestandteil des Planeten, nicht Bewohner. Der Planet ist ja keine Kugel, auf dem Viecher herumrennen und Pflanzen gedeihen, sondern eine Gesamtheit. Das Meer ist ja auch keine Wassermasse mit Korallen, Algen und Fischen drin (oder nicht) – die Fische, Korallen, Algen und das Wasser sind das Meer in ihrer Gesamtheit. – Hm?

Die neue Geschichte

Das wären doch neue Geschichten, eine neue Perspektive, eine neue Option: die New Story, die wir dringend brauchen.

Diese New Story liegt für alle Politiker*innen bereit. Eine neue, eine große, eine bessere, eine echte Story, die sie in ihren Narrativen und Erzählungen, wie’s in deren Jargon doch heißt, teilen und so Bewegung in die Menschen und Menschen in Bewegung bringen können. Und zwar in Richtung einer besseren Zukunft, in der wir einander unterstützen anstatt bekämpfen. In eine Zukunft, in der wir leben wollen, und wollen, dass unsere Kinder und Enkel*innen dort leben, leben können, sie überhaupt erleben können. Eine Zukunft des Ermöglichens anstatt der heutigen Gegenwart des Verhinderns und des Gegeneinander-Ausspielens. Eine Zukunft der Kooperation, der wechselseitigen Unterstützung, des Verstehens, der Herzensbildung. In dieser Zukunft müssen wir das Sinn-Vakuum in uns, in unseren Unternehmen und in unserer Gesellschaft nicht mehr durch Konsum und durch materielles Wachstum, also über die Ausbeutung von Ressourcen, vergeblich zu stopfen versuchen. Dort entsteht der Sinn gleichsam von selbst.

Das geht unter Garantie nicht schnell. Dafür müssen wir unbedingt in Generationen denken, und an allen Orten braucht’s Gleichgesinnte. In der Bildung, in der Wirtschaft, in der Politik, vor allem in der sogenannten Zivilgesellschaft braucht’s Anführer*innen – solche, wie diese wunderbaren engagierten Menschen, die heute dort vielfach schon zu Werke gehen; Menschen, die mit heißem Herz, kühlem Kopf und ruhiger Hand nicht auf alles eine schnelle Antwort gurgeln, sondern die richtigen Fragen stellen. Zum Beispiel: Was wäre, wenn wir ab sofort nicht mehr auf Komfort verzichten, sondern uns vom Unmaß befreien?

I have a dream. Und zwar, dass diese neue, relevante Geschichte von den richtigen Leuten gut erzählt und in Zahl und Tat von ausreichend vielen geteilt wird, damit sich etwas ändert.

Dann würden Keith Richards und meine Großmutter, die alte Story Dudette, blitzartig unter ihrem Stein hervorkriechen und sich beim nächsten G20-Gipfel mit einem Kaugummi vor die Eingangstüre kleben, während sie ein Transparent schwingen, auf dem in Regenbogenfarben zu lesen steht: „New Story. New Glory.“

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