Markus Gull

Warum zerstören Marketing-Pros ihre eigenen Werkzeuge?

Howard L. Gossage war verrückt im allerbesten Sinne des Wortes, dennoch vermutlich nicht allzu glücklich, aber definitiv ein weiser Mann. Man nannte ihn den „Sokrates von San Francisco”, dort betrieb er von 1957 bis zu seinem frühen Tod seine Werbeagentur. Und Gossage war ein Mad Man reinsten Wassers. Mad genug, damals eben nicht an der Pflichtadresse Madison Avenue (NY, NY) zu residieren und mad auf Werbung, die in dieser Zeit zu einem noch größeren Teil aus alberner Reklame bestand als heute. Sein allerklügster überlieferter Satz gilt heute ganz besonders und beantwortet allen, die ihn verstehen, eine Menge Fragen, ähnlich wie Sokrates‘ weise Worte: „Der Kluge lernt aus allem und von jedem, der Normale aus seinen Erfahrungen, und der Dumme weiß alles besser”, es tun.

Was wir wirklich langsam lernen könnten, so oder so, ist erstens, dass die Menschen nicht so bescheuert sind wie man es sich in Werbeabteilungen und -agenturen vorstellt, wie man sie dann in Kampagnen darstellt und, dass sie auch nicht so bescheuert sind wie sie sich sehr oft benehmen. Zweitens, dass es zwar über Jahrzehnte funktioniert hat, möglichst vielen wehrlosen Konsumenten Werbebotschaften vor die Nase zu prügeln, es aber nie richtig war, schon gar nicht beliebt und überhaupt nicht respektvoll. Und drittens könnten wir langsam lernen, dass die Konsumenten, spätestens seit 6. August 1991 die erste Website online ging, nicht mehr wehrlos sind, sondern an der Macht. Das Web hat die Konsumenten wieder in Menschen verwandelt, theoretisch jedenfalls, auch wenn sie sich praktisch oft ganz anders verhalten, nämlich bescheuert.

Im Web können Unternehmen, Services und Marken in mannigfaltiger Weise den Menschen auf Augenhöhe begegnen. Es geht ja längst nicht mehr um Produkte, sondern um Beziehungen, Märkte haben sich in Gespräche verwandelt, Marken können sich an diesen Gesprächen beteiligen, sie initiieren, bereichern. Doch was wird mit allen Mitteln versucht? Die Gespräche zu manipulieren, zu beeinflussen, zu stören. Zauberwörter wie Native Ads oder Pre-, Mid- und Post-Rolls verkleiden das alte Begehren, möglichst vielen wehrlosen Konsumenten Werbebotschaften vor die Nase zu prügeln. Möglichst noch in höchster Programmatic-Effizienz verteilt. Das ist nicht Advertising, das ist Adverstalking.

Klickrates, Likes und Followers gaukeln Wirkung vor, aber urplötzlich gibt Facebook zu, dass die großartigen Erfolgszahlen leider doch aus dem Fakebook stammen. Wenn die Marketing-Pros richtige Werkzeuge falsch verwenden und sie somit zerstören ist es kein Wunder, dass die Menschen selbst neue Werkzeuge erfinden, weil sie sich vor ihnen schützen wollen. Kein Wunder, dass Menschen Geld ausgeben, damit sie keiner Werbung mehr begegnen müssen und Adblocker rasante Verbreitung finden. Hätte „Werbung überspringen” einen Instagram-Account, Selena Gomez würde sich über dessen Followerzahlen in Neidattacken winden.

Dieses spektakulär falsche Denken der Marketing-Pros bringt nicht nur Menschen auf die Palme und Marken in Probleme. Das Abwehrverhalten der Menschen bringt auch Publisher zunehmend in Bedrängnis: sie stehen im friendly Kreuzfeuer ihrer beiden Kundengruppen und sollten mit allem, was sie an Einfallsreichtum aufbieten können, mit Nachdruck an nachhaltigen Lösungen arbeiten.

 

Skip Ad

 

Geht es auch anders? Ja, unbedingt. Ja, erfolgreich. Ich ziehe an dieser Stelle stets das Beispiel Always #likeagirl aus dem Ärmel und anerkennend meinen Bewunderungshut. Always engagiert sich seit 2014 im Aufbau des Selbstvertrauens von Mädchen und Frauen, also in einem Themenfeld, in dem auch das Produkt selbst einen Beitrag leistet. Das ist das Video zum Start der Initiative:

 

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Diese Kampagne, tatsächlich: diese Bewegung, steht in ihrem dritten Jahr und bearbeitet das Thema Selbstvertrauen/Selbstwert von Mädchen mit ständig neuen Initiativen in unterschiedlichen Aspekten. Erfolgreich als Kampagne, erfolgreich in der Wirkung, erfolgreich für die Marke. Hier gibt es eine kompakte Case Study:

 

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Das ist Brand-Storytelling in perfekter Form, nämlich Storysharing: Marke und Publikum teilen gemeinsame Werte, eine gemeinsame Sehnsucht wird aktiviert, und zwar so, dass das Publikum danach sucht, sich aktiv daran beteiligt und nicht belästigt wird. Im Gegenteil. Was kümmert uns da noch ein Ad-Blocker?

Übrigens: Der Gossage-Satz, den ich oben so smart anteaserte, dass die Lese-Neugier noch hier unten lodert, lautet: „Nobody reads ads. People read what interests them. Sometimes it’s an ad.” Dem ist nichts hinzuzufügen, ausser vielleicht ein Zitat aus des Story Dudes prall gefülltem Kistchen: „No story – no glory.” Isso!

 

Bildhinweis: Shutterstock | Clive Tooth: Das falsche Hilfsmittel für den Job

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