Markus Gull

Sag mir, wo die Mentorinnen sind.

Nach meinem letzten Blogartikel über Mentoren begann in meinem Team eine Diskussion darüber, warum es denn in der Belletristik, in der Bühnenliteratur und im Film tatsächlich so wenige Mentorinnen gibt. 

Das ist eine wirklich interessante Frage! 

Zu einem großen Teil hängt das naturgemäß mit der elenden Stellung der Frau in der Gesellschaft zusammen und mit der über die Jahrhunderte gelebten Alltagskultur, in deren Rahmen man alles, was Weisheit und Führerschaft betrifft, nahezu reflexartig stets männlichen Figuren zuordnete und es allzu oft noch immer so macht. Wider besseres Wissen. 

In Tat und Wahrheit riecht dieses Manko umso paradoxer, weil doch gerade die Literatur eine wesentliche Quelle des Hinterfragens –unter anderem auch gesellschaftlicher Konvention – zu sein hat und gleichzeitig nahezu jeder Mensch prinzipiell als seinem ersten Mentor einer Mentorin begegnet: seiner Mutter. 

Das mag zwar in vielen Fällen nicht ganz so gut laufen, wie es sollte, dennoch ist in den allermeisten Biografien die Mutter jene Bezugsperson, die dem kleinen Helden bei seinen ersten Schritten auf seiner Reise allerlei zeigt und auf manches hinweist, was ihrem Erfahrungsschatz entspringt; ihn motiviert, orientiert, inspiriert – alles, was halt Mentorinnen so tun, wenn der Tag lang und Heldin & Held auf der Suche nach Werten, Wahrheit und Gummibärli sind. 


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Im Blogcast lese ich Dir diesen aktuellen Blogartikel vor. Mit Betonung, versteht sich!

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Mentorinnen – Weisheit in Reinkultur.

Wenn wir an die beiden offiziellen Herzkammern denken, aus denen jede anständige Mentorenpumpe besteht, Empathie und Kompetenz, dann fällt uns doch auch gleich einmal die Mutter ein. Oder die Großmutter, wie in meinem Fall, die alte Story Dudette, die mich bis heute begleitet, mit ihrer unerschöpflichen Weisheit – aus Forrest Gumpscher Allgegenwart genährt und stets ungefragt verbreitet. Ich sage nur: Trojanisches Pferd … Denn „Timeo Danaos et dona ferentes“ hat Laokoon ja nur nachgeplappert, und wir alle wissen, wem. Wie es für ihn ausging, wissen wir auch, nur so als kleiner Hinweis für alle jene, die fremde Zitate allzu nonchalant als ihre eigenen ausgeben …

Apropos Troja! Der Begriff Mentor stammt aus der Odyssee. Dort war ein Mann namens Mentor bester Freund und Ratgeber des Odysseus und vor allem dessen Sohnes Telemachos. Warum konnte Mentor diese Aufgabe so brillant erfüllen? Weil immer wieder die Göttin der Weisheit, der Strategie, des Kampfes, der Kunst, des Handwerks und der Handarbeit in seinen Körper schlüpfte und aus ihm sprach, die weise Göttin – in diesem Fall Athene und ausnahmsweise einmal nicht die alte Story Dudette.

Der original Ur-Mentor konnte also vor allem deshalb Mentor sein, weil ein weibliches Wesen, eine Göttin, und zwar die Göttin der Weisheit, aus ihm sprach. Und dennoch ist die Literatur arm an weiblichen Mentor-Figuren, an Mentorinnen.
Da weiß ich jetzt auch nicht mehr …

Wer fällt uns ein?
Hm …

Wo sind die legendären Mentorinnen?

Pippi Langstrumpf – als Mentorin vor allem für Tommy und Annika, aber auch für alle anderen in ihrem Umfeld. Oder Deloris in „Sister Act“, die mit ihrer mehr als unkonventionellen Art das Denken im Kloster massiv durchlüftet. Beides hoch wirksame Mentorinnen, aber per se nicht als Mentorinnen angelegt.

Mary Poppins und Nanny McPhee als Kindermädchen, oder gute Feen und Hexen wie Glinda aus der „Zauberer von Oz“ kommen mir in den Sinn. Dann fallen mir noch die Lehrerinnen Katherine Watson aus „Mona Lisa Smile“ und Erin Gruwell aus „Freedom Writers“ ein und vielleicht, mit zugedrücktem Auge, noch die vorletzte M-Figur aus James Bond, von Judi Dench gespielt; aber langsam wird’s dünn. 

Schon überhaupt abseits des klassischen Rollenbildes als Muttertier und gütige Behüterin – oder dem direkten Gegenteil: dem Wildfang im Kleidchen. So richtig saftige Mentorinnen-Legenden in der Bauart von Merlin/Gandalf/Obi-Wan Kenobi, die wirklich allen ein Begriff sind? Fehlanzeige!

Da klafft eine ziemlich breite, finstere Lücke in der Literatur, oder? Im wirklichen Leben sieht’s unter Umständen ein bisserl besser aus, mittlerweile. 

Wenn das Gespräch auf Lehrer kommt, zum Beispiel, dann fallen nach den üblichen Witzen und offiziellen Lamentos häufig Namen von Lehrerinnen, in aller Regel aus der Volksschulzeit, die dann ja doch die rühmliche Ausnahme waren und deshalb wirklich nie vergessen werden. Garantiert nie! Ich hoffe, du hattest so eine – meine Volksschullehrerin war ein Mann, der Direktor noch dazu. Da haben wir’s wieder!

Mentorin, Vorbild, Influencerin

Wenn wir die Grenzen zwischen Mentorin, Vorbild und Influencerin verwischen, also unseren Blick auf die Mentorin werfen, die nichts von ihrem Glück weiß, geht’s uns schon besser. Da ist die Personaldecke nicht ganz so dünn, obwohl bei vielen, vielen dieser besonderen Frauen, die unsere reales Leben prägen, dieses ewige „… und das als Frau …“ im Hintergrund mitsummt und somit die Ernsthaftigkeit ihrer Leistung mit dem Zuckerguss der Extra-Anerkennung doch gleich ein wenig ungesünder schmeckt. 

Was soll denn das heißen: „… und das als Frau …“? Irgendwie heißt das eine ganze Menge. Heißt, dass es eine Menge zum Nachdenken gibt, zum Nachholen für eine Gesellschaft, in der hinter jedem erfolgreichen Mann eine starke Frau steht, wie man ja ständig hört …

Ja, unsere Mentoren, die uns nicht kennen – solche gibt’s auch, und das sind nicht unbedingt die schlechtesten, obwohl man sie meistens nichts fragen kann, die Empathie prinzipiell sehr einseitig strömt und man sich schon allerlei selbst zusammenreimen muss. Mentoren aus der Ferne – Vorbilder in einer speziellen Aufgabe oder Lebenssituation, in der wir uns befinden, die sie in ähnlicher Form ebenfalls durchlebten und die sie durch ihr Handeln beispielhaft und für uns lehrreich meisterten. Ich lese viele (Auto-)Biografien von solchen Menschen und lerne. Allein, wenn du „Long walk to freedom“ von Nelson Mandela (schon wieder ein Mann!) liest, rückt das deinen Blick auf die Probleme des eigenen Lebens in eine Perspektive, die dir dein Jammern in derselben Sekunde abstellt. „Bird by Bird“ von Anne Lammott ist ein wunderbares biografisches Buch über das Schreiben, aber vor allem auch über Arbeitsethos und Beharrlichkeit in den Mühen der Ebene, die jede schöpferische Tätigkeit gnaden- und ausnahmslos mit sich bringt.

Ich denke, wenn Mentorinnen über ihr Wirken und ihre Wirkung in unser Leben treten und wir genau das sehen, von allen Vor- und Be-Urteilungs- und Relativierungsparametern gereinigt, dann hat sich tatsächlich etwas in den grünen Bereich bewegt. Deshalb mache ich für mich einen einfachen Test, wenn ich in meiner Arbeit als Fiction-Autor weibliche Charaktere entwickle:
A) Würde diese weibliche Figur auch dieselbe Wirkung haben, wenn sie männlich wäre, ohne irgendwelche Relativierungen?
B) Ist diese Figur notwendigerweise weiblich, weil sie dadurch etwas für die Sache der Frauen bewegt, ohne irgendwelche Relativierungen?
Für alle „Grey’s Anatomy“-Seher: Dr. Miranda Bailey ist so ein Character, der diese beiden Facetten gut zeigt. 

Mentorinnen aus Fleisch und Blut.

In der Realität zeigt uns allen das Leben von Jane Goodall, was man erreichen kann, wenn man seine Aufgabe gefunden hat oder von ihr gefunden wurde. Ja, meinetwegen auch „… und das als Frau …“, aber das, was sie tut, würden vermutlich die meisten Männer, selbst die überprivilegierten, nicht zusammenbringen, steht also für sich und für sie als Mensch.

Oder Taylor Swift, die mit einem offenen Brief an Apple iTunes den Konzern zum Umdenken bewegte und erreichte, dass Künstler ihre Tantiemen auch aus der kostenlosen Probezeit der User bekommen. Die Mentor*innen-Botschaft – auch an die Buben übrigens: Steh auf für dein Anliegen, und wenn du die entsprechende Power hast, steh auch für alle anderen auf, denn jede Gabe ist eine Aufgabe. Sowas hätten sich auch männliche Künstler trauen können, haben sie aber nicht.

Man kann auch sitzen bleiben, wenn man aufstehen will, wie Rosa Parks vor 65 Jahren in einem Autobus in Alabama, und damit eine Menge anstoßen – die Bürgerrechtsbewegung in den USA auslösen.

Dass sich deshalb niemand mehr um alles, was Frauenrechte, #metoo und sämtliche damit verbundenen brennheißen Themen kümmern soll, darf das keineswegs bedeuten – im Gegenteil: Das wär’ doch was für Unternehmen, die’s ernst meinen mit ihrem Purpose und Anliegen und was sonst noch alles schwer in Mode ist. Hier könnte wahrlich Großes bewegt werden, im Interesse aller und auch im Interesse – warum denn nicht? – der Marken selbst.

Können Marken als Mentorinnen wirken?

Da denke ich gleich an den noch immer legendären „Think different.“-Film von Apple, an die Menschen, deren Verrücktheit sie denken ließ, sie könnten die Welt verändern – und die es somit auch taten. Zwei Frauen kamen vor – Maria Callas und Amelia Earhart, das war’s. 

Fällt dir was auf?
Fällt dir was ein? 

Apple selbst fällt ja schon länger ziemlich wenig ein, Nike dafür zum Glück etwas mehr – was auch Serena Williams feststellt.
Wie eine Marke ihre Mentorinnen-Ambition substanziell vorbildlich auf den Weg bringen kann, turnt seit 2014 mein Favoriten-Projekt #likeagirl von Always vor. Always ist in sich eine Mentor*innen-Vorbild-Influencer-Figur für die vielen, vielen Marken, deren Verantwortliche sich auf der Suche nach einer Brandstory im Kreis drehen und denken, sie hätten ihr Glück in Verkündigungsfilmen gefunden, wie in diesem von Billa oder in diesem von Zalando.

Was bleibt davon übrig? Ein riesiges Vakuum, in dem der – excuse my French  Werbe-Schas herumkaspert wie ein entwischter Luftballon und das Echo des Satzes „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt“ zum Tinnitus anschwillt, vor dem sich die Zielgruppen in Scharen verstecken. Ja, es ist vielleicht gut gemeint, und es gibt auch sicher Altpapiercontainer voller Studien, die belegen, wie super das wirkt. Mag sein, dass solches möglicherweise kurzzeitig effektvoll ist, tatsächlich aber bleibt es wirkungslos – für die Marken selbst und für das Anliegen sowieso. 

Sowas wie #likeagirl sollte es – zumal in der Debatte rund um die doch wirklich mehr als selbstverständliche Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft – auch für Knaben geben, für junge Männer, für alle Männer. Wann ist ein Mann ein Mann, und wie spiegelt sich das in seine Rollenbilder – zum Beispiel als Vater, als Partner, als Mensch? Woran erkennt er die beste Version von sich selbst? Welche Marke könnte denn diesen Männern Mentor sein, oder Mentorin sogar, ihnen bei der Findung von Perspektive und Orientierung einige Leuchttürme anzünden? 

Wenn wir uns im Procter & Gamble-Regal umsehen, sticht uns die Always-Geschwistermarke Gillette ins Auge. Meine Güte, das wäre doch ein perfektes Set-up! Genau das hat man sich bei Gillette vermutlich auch gedacht, und ich fürchte, im selben Augenblick das mit dem Denken auch schon wieder gut sein lassen. Jedenfalls zeigten die wackeren Markenmeister dort, wie groß die Fußstapfen von Always wirklich sind und dass man zuerst einmal #likeagirl hüpfen können muss, bevor man the best man can be sein darf. Manchmal lernt man von Mentoren eben auch, wie man’s nicht macht, wie du hier schnell entdecken wirst. 

Greta verwandelt die Welt.

Vielleicht bewegt das Auftreten von Greta Thunberg in ihrer Generation nicht nur etwas in Sachen Klimakrise, sondern auch etwas in der Wahrnehmung von Frauen als Mentorinnen, Influencerinnen und Vorbilder jenseits von Muttertier, Sinnlichkeitsgöttin und Wildfang, und zwar bei weiblichen und männlichen Publikumsgruppen gleichermaßen?

In unserer Welt, in der die Anführer der Gesellschaft, also die Politiker, regelmäßig und systematisch ihren Beruf schwänzen, und in der man denkt, einen erfolgreichen Politiker erkenne man daran, dass er Wahlen gewinnt, ist es auch kein Wunder, dass man Tabaktrafiken für systemrelevant hält, Buchhandlungen aber nicht. Es ist dann auch alles andere als ein Wunder, dass der gesellschaftliche Grundkonsens die Lehrer aus der Reihe der heiligen Berufe schoss und zum Ausbluten direkt ins Witzfigurenkabinett hängte.

Und wenn wundert es noch, dass unserer Welt nun diejenigen fehlen, die andere mit liebendem Herzen bei ihrer Verwandlung begleiten, die Mentorinnen also? Denn bei seiner Ansage: „Der Planet braucht keine erfolgreichen Menschen mehr. Der Planet braucht dringend Friedensstifter, Heiler, Erneuerer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Arten“ hat der Dalia Lama definitiv Frauen mitgemeint. Wie sich auch beim Gedanken „Sei selbst die Mentorin, die du gerne gehabt hättest“ Männer betroffen fühlen dürfen. 

Und im Übrigen lautet die korrekte Übersetzung von „Timeo Danaos et dona ferentes“, keineswegs „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“, sondern, wie meine Großmutter, die alte Story Dudette, Vergil hinter sein Lieblingsohr schrieb: „No Story. No Glory.“

 


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No Story. No Glory. – Der Podcast

 

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