Markus Gull

Im Anfang war das Wort. Im Anfang war der Wert. – Storytelling, das be-geistert.

„Im Anfang war das Wort …“, so beginnt das Johannesevangelium, und aus diesem Beginn entwickelt sich die Schöpfungserzählung des christlichen Glaubens.

Egal woran man glaubt oder nicht – das Wort am Anfang des Erschaffens, ein formulierter Gedanke, eine Idee, ein Ziel begegnet uns tagtäglich und ständig.

Selbst in unserer Zeit, in der wir so kurz angebunden sind, das Bild schnell und also so mächtig ist und angeblich nur noch das bewegte Bild bewegt, in dieser Zeit ist Visual Storytelling ein hoffnungsstarkes Zauberwort und dennoch nichts so mächtig wie das Wort.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte und wird doch oft erst durch das passende Wort lebendig. Oder durch das unpassende Wort erst passend gemacht. Bild-Text-Schere sagt man auch dazu. Schnipp-schnapp, und schon entsteht eine Geschichte im Kopf.

Ein Wort – tausend Bilder.

Sogar in den visuell getriebenen Social-Media-Channels kommt kaum ein Bild wirklich ohne ein Wort aus oder muss wenigstens mit einem Emoji gedeutet oder umgedeutet werden. Emojis, die Hieroglyphen an den virtuellen Wänden von heute. Kommunikation als Pyramidenspiel, bei dem am Ende kaum einer gewinnt, aber jede Menge Zeit verliert.

Dasselbe Wort zeichnet unterschiedlichste Bilder im Kopf.

Ich sage: „Wald!“ Was siehst Du? – Nadelwald, Laubwald, Nutzwald, Urwald …?
Dasselbe Wort, jeder sieht etwas anderes. Ein Wald, viele Bäume. Ein Dickicht aus Verständnis und Missverständnis.

Wenige Wörter, richtig gewählt, erschaffen mit einem Urknall ein komplexes Universum in unserer Phantasie. Ernest Hemingway brauchte dafür ganze sechs Wörter:
For sale:
Baby shoes.
Never worn.

Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder.

Alles beginnt mit Dir.

Der von mir oft erwähnte, merkwürdige Steven Pressfield, dessen Bücher „The War of Art“ und seine Nachfolger gar nicht oft genug empfohlen – und von Story-Insidern gelesen (!) – werden können, schrieb kürzlich in seinem Blog einen Text, den ich hier im Original zitiere:

The actress reads a book or screenplay and says, “I want to do this.”

We applaud her vision.

The editor discovers a manuscript and publishes it.

We salute his taste.

The director, the producer, the financier find a hot property and scoop it up.

We give ’em an award.

I’m not saying these artists don’t deserve their plaudits.

All I’m saying is: It all begins with the writer.

The fun starts with you and me.

Everybody else waits downstream.

Everyone else comes late to the party.

Others may interpret. They may mount, they may discover, they may finance, underwrite, refine, support, reconfigure. They may “bring to life”.

But the material they work with had its genesis with you and me.

At the moment of conception there are only two entities in the room — you and your Muse.

William Goldman* said famously in Adventures in the Screen Trade „Nobody knows anything.”

Lemme propose an amendment.

Before the writer, nobody has anything.

I wrote in „The Artist’s Journey” that the artist enters the void with nothing and comes back with something.

A machine can’t do that.

A supercomputer packed with the most powerful AI can’t do that.

In all of creation, only two creatures can do that.

Gods.

And you and I.

Keep this in mind, brothers and sisters, when some agent or manager or producer disrespects writers or the writing process.

Before the writer, nobody’s got nothing.

Word!

Wenn Steven Pressfield hier über Writer spricht, dann spricht er gleichzeitig über jeden von uns. Wir sind die Autoren der Zukunft. Nicht nur unserer eigenen. Wer denn sonst?

Welche Story schreibst Du?

Wenn Du ein Unternehmen gründest und dafür die geilste Start-up-Idee überhaupt hast: Im Anfang ist das Wort, erst dann der Business-Plan.
Davor hat niemand etwas, kein Investor, kein Hersteller, kein Programmierer, kein Nutzer, kein Kunde.

Wenn Du Dich um einen Job bewirbst, politisch aktiv bist, Dein Team für etwas gewinnen willst, eine Theatergruppe gründest oder einen Tierschutzverein oder einen Weihnachtsbazar auf die Beine stellst. Wenn Du Deinen Klienten eine Content-Strategie oder Deiner Bank das Sanierungskonzept für Deine Tischlerei, Deinen Kollegen ein Innovations- & Change-Management-Programm oder Deinen Mitarbeitern die neue Arbeitszeitregelung präsentierst: Lange zuvor, ganz am Anfang, sitzt jemand irgendwo vor einem leeren Blatt Papier oder vor einem blinkenden Cursor am leuchtenden Bildschirm und schreibt etwas auf. Das erste Wort. Und dieser jemand bist Du.

Story – mächtiger als das Schwert.

Martin Luther King Jr. rief: „I have a dream …“ Ein Traum – was für ein großes Wort. Dahinter steht ein noch größerer Wert, wie bei MLK das freie friedliche Zusammenleben aller Menschen ohne jeden Unterschied – free at last.
Das ist Story. Dafür lohnt es sich zu kämpfen, denn reden alleine bringt uns nicht weiter.

Ein Traum ohne To-do-Liste bleibt Träumerei.

Aber selbst der Pazifist Carl von Ossietzky wusste: „Man kann nicht kämpfen, wenn die Hosen voller sind als das Herz.“ Denn nicht nur am Ende gewinnt die bessere Story, sondern bereits am Anfang.

Der Anfang ist das Wort. Das ist ebenso unumstößlich wahr wie Steven Pressfields Satz: „Nobody want’s to read your shit.“ Außer im besten Fall.

Im besten Fall gelingt Dir nämlich etwas Wundervolles – mit dem, was Du sagst und wie Du es sagst. Man nennt das Inspiration. Du lässt den Funken überspringen.

Das können wir Menschen nur mit Storys tun. Damit können wir andere inspirieren – be-geistern. Geist einhauchen, aufwecken, wachküssen, bewegen.

Es gelingt nur dann, wenn Du nicht Deine Geschichte erzählst, sondern die Deines Publikums. Everybody wants to read their shit.

Story – der Peilton für den Sinn der Sache.

Ist das nicht irgendwie das, was manche als göttlich bezeichnen? Als göttlichen Funken?
Lass die Räucherstäbchen stecken, Fremder. Wir müssen jetzt nicht „Kum ba yah, my Lord“ singen, Vanilletee trinken und einander umarmen.
Daran muss man auch nicht glauben.
Das stimmt auch so. Das ist nämlich ganz einfach das, was uns Menschen ausmacht.
Geschichten machen uns menschlich.
Im Anfang ist das Wort.
Im Anfang ist ein Wert.
Amen!

Geschichten geben uns Orientierung. Im Leben sowieso, aber auch im Dschungel von Unternehmen, Marken, Produkten.
Geschichten sind der Peilton für Sinn. Sinn lockt uns Menschen an, Sinn suchen wir.
Den Sinn des Lebens, den Sinn in den Dingen, in den kleinen wie in den großen.

Wir wollen Teil von etwas Sinnvollem sein, von etwas, das größer ist als wir und uns dadurch größer macht.
Wir kaufen, was wir sein wollen.

 

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Purpose: ein Wort, ein Wert – unsere Sehnsucht.

Purpose, also das gemeinsame Anliegen, der Sinn hinter den Dingen, die Bedeutung des Tuns – das ist der zukunftsentscheidende Erfolgsfaktor für Marken, Unternehmen und Organisationen, denn so entstehen relevante Beziehungen. Und für jeden Menschen ganz persönlich, bis hin zum nackten Überleben, wie uns Viktor Frankl sagte: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“

Professor Frankl wurde weltberühmt und welt-bedeutend durch die Begründung der Logotherapie. Logos  – der altgriechische Ausdruck für Wort und Rede und vor allem auch für deren Gehalt, den Sinn.
Im Anfang war das Wort. Ist doch ziemlich logo, oder?

Weil’s grad passt, hier ein paar Zahlen aus einer aktuellen repräsentativen internationalen Untersuchung**, die vermutlich nicht nur jene, die im Sternbild des Excel geboren sind, geil finden:

66 % der Befragten wählen, wechseln zu oder boykottieren eine(r) Marke wegen ihrer Haltung zu gesellschaftlichen Fragen (2017 waren es noch 51 %).

53 % stimmen der Aussage zu, dass Marken mehr zur Beseitigung sozialer Missstände tun können als Regierungen; fast die Hälfte sagt, Marken haben dafür auch die besseren Ideen.

64 % sagen, CEOs sollen positive Veränderungen einleiten und nicht darauf warten, dass sie von Regierungen angeordnet werden.

54 % glauben, es ist einfacher, Marken anstatt Regierungen dazu zu bringen, gesellschaftliche Verbesserungen in Angriff zu nehmen.

56 % finden, Marken wenden zu viel Zeit dafür auf, sie zur Aufmerksamkeit zu zwingen als ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Geteilte Werte, geteilte Sehnsucht, geteilte Geschichten.
Storysharing ist das neue Storytelling.

So verwandeln sich das Echo des Werbelärms und das Aufdoppelungsgeschrei von immer Gleichem der Social-Media-Streams im besten Fall in Resonanz. Genau das wäre der Sinn der Sache.

Storys bringen uns respektvoll ins Gespräch mit unserem Publikum, wenn die Story für beide relevant ist. So macht man das heute, jenseits von Werbung.

Unsere verwirrenden Zeiten brauchen Orientierung. Dafür hat uns die Evolution Storys als wirkmächtiges Werkzeug gegeben. Die Welt braucht Storyteller und noch mehr: Story-Sharer.

Auch deshalb stickte meine Urgroßmutter, die uralte Story Dudette, Johannes Gutenberg die wohlgewählten Worte in seinen Druckerschurz: „No Story. No Glory.“

* William Goldman, Oscar®-geadelter Drehbuchautor von Filmklassikern wie „All the President’s Men“, „Butch Cassidy and the Sundance Kid“, „Marathon Man“ und „Misery“ sowie Autor des Buches „Adventures in the Screen Trade“.
** Edelman Earned Brand Study

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