Markus Gull

Heldenreise (2): Warum beginnt jede Story mit einem Schmerz?

Kennst Du den am dichtesten besiedelten Ort auf Erden? Es ist die Komfortzone. Jeder von uns lebt dort, kaum jemand will freiwillig raus.

Das ist aus mancherlei Gründen verständlich. Eine ganz entscheidende Ursache dafür ist, dass unser Gehirn seit Abertausenden von Jahren auf Sicherheit gepolt ist und sich, trotz aller Entwicklung, die wir als Menschen durchmachten, noch immer vor Gefahren fürchtet, die es heutzutage gar nicht mehr gibt; und vor solchen, die es noch nicht gibt, aber geben könnte, erst recht.


ZU FAUL ZUM WEITERLESEN? DANN HÖR MIR ZU:

Im Blogcast lese ich Dir diesen aktuellen Blogartikel vor. Mit Betonung, versteht sich!


Damit uns der böse Tiger nicht fressen kann, bleiben wir vorsichtshalber dort, wo wir sicher sind: zuhause in der Komfortzone. Es gibt zwar keine Tiger in unseren Breiten, aber andere Ungeheuer, vor denen wir uns verstecken müssen. Das ungeheuerlichste Ungeheuer, das wir kennen, ist das Unbekannte selbst, die Ungewissheit. Und auch wenn das Unbekannte ganz danach aussieht, dass es viel besser sein könnte als das Bekannte, trauen wir der Sache dennoch nicht und verharren dort, wo das Bekannte ist: im sichern Hafen dessen, was ist, wie es ist. 

Denk nur an die vielen Menschen, die ihr Leben lang in unglücklichen Beziehungen verharren, mit der oft sogar wörtlich ausgesprochenen Begründung: „Da weiß ich wenigstens, woran ich bin.“

Man hat, was man hat, und sicher ist sicher. 

Bist Du Dir da wirklich sicher? Sicher ist nämlich nur eines: Sicherheit und fürs Glück ist nicht dasselbe. Und fürs Glück braucht man unglücklicherweise Mut. Ein bisschen jedenfalls.

Mut erlebt man in diesem Fall so, wie es John Wayne beschreibt: „Courage is being scared to death and saddling up anyway.“

Wir gehen auf die Reise.

Damit wir uns also aus diesem – vermeintlich – sicheren Hafen namens Komfortzone herausbewegen ins Meer der Möglichkeiten, muss schon allerlei passieren. Oft ist es ein konkreter Anlass, der unsere normale, gewohnte Welt ordentlich erschüttert und uns herausbeutelt.

Das ist die Stelle, an der die Heldenreise beginnt. 

Joseph Campbell, der US-amerikanische Mythen-Forscher, untersuchte die unbändige Kraft, die Geschichten in unserer Kultur und in unserem persönlichen Leben entfalten, und half der modernen Gesellschaft, diese zu verstehen. 

Er hat vor 70 Jahren mit der Heldenreise ein Modell entwickelt, mit dem er die inneren Gesetzmäßigkeiten beschreibt, die unseren Geschichten zur Welterklärung zugrunde liegen. 

Joseph Campbell spricht von einem Monomythos, denn in ihrer Struktur gleichen einander alle bedeutenden Geschichten – beginnend mit den Ur-Mythen der Menschheit. Auf ihrer Reise durchläuft die Heldin – also die Hauptperson der Geschichte – 17 Stationen der Entwicklung, vom Aufbruch aus der gewohnten Welt bis zur befreiten Heimkehr. 

Heldenreise

Ich habe Joseph Campbells Modell der Heldenreise in meiner Methode Hero Branding® in eine vereinfachte, leicht verständliche und praktisch anwendbare Version verdichtet und werde in den nächsten Folgen meines Blogs mit Dir als Story Insider die einzelnen Stationen durchwandern. 

Heldenreise

 

Teil 1 findest Du hier.

Story heißt Verwandlung.

Jede Geschichte erzählt von einer Verwandlung, von einer Reise eines Menschen, der aus seiner gewohnten Welt aufbricht, um seine Glückseligkeit zu erreichen. Am Ende einer gelungenen Reise ist dann nicht nur etwas anders, sondern alles besser.

In der Architektur von Story nennt man dieses Ereignis, das alles durcheinanderwirbelt, den Inciting Incident. 

Man könnte auch Konflikt dazu sagen, wobei Konflikt vieles sein kann, nicht nur Negatives. Man lebt zum Beispiel gemütlich vor sich hin, denkt an nichts Böses, und plötzlich stößt man mit einem Menschen zusammen, in den man sich bis über beide Ohren verliebt. Und nichts ist mehr so wie es war. Schon gar nicht, wenn man längst in einer der oben erwähnten unglücklichen, aber gewohnten Beziehungen feststeckt.

Da klopft also das – neue – Glück an die Türe des Herzens, und was macht man? Angst haben, in aller Regel.

Bei Unternehmen oder unternehmerischen Menschen kann so ein Konflikt als neue Idee verkleidet sein. Eine neue Idee? „Wow!“, möchte man meinen. Doch die übliche Standard-Reaktion ist auch in Unternehmen in aller Regel: Angst haben. Und Angst ist nicht nur ein schlechter Ratgeber, sondern der perfekte Nährboden für falsche Entscheidungen noch dazu.

Erinnerst Du Dich noch an die Marke Kodak? Seit der Gründung vor 130 Jahren (1888) beherrschte Kodak den Foto-Markt: Kamera, Film, Dunkelkammergeräte, Chemikalien, Fotopapier … Und zwar so massiv, dass der in der Werbung verwendete Begriff „Kodak-Moment“ in die Alltagssprache Einzug hielt, als Synonym für Erlebnisse, die man niemals vergessen wird.

Kodak erlebte einen solchen besonderen Moment auch selbst, einen Inciting Incident als Ausgangspunkt einer Tragödie, einer umgekehrten Heldenreise. Steve Sasson, ein Mitarbeiter des Unternehmens, baute nämlich 1974 die erste Digitalkamera der Welt. Aber viele im Unternehmen wussten nichts damit anzufangen. Und die, die den Wert dieser Innovation verstanden, verhinderten sie, weil man das Stammgeschäft nicht gefährden wollte. „Warum etwas verändern? Es geht uns doch bestens!“

2012 war Kodak pleite und ging in Konkurs. 

Eines der innovativsten Unternehmen der Welt, eines, das seinen Markt beherrschte, ein weltweit agierender Milliardenkonzern, verschlief die eigene Innovationskraft und erkannte den Inciting Incident fürs nächste Kapitel seiner Markenstory nicht. Unglaublich? Wirklich?

Ich vermute, bei Kodak kannte man in Wahrheit die kraftvolle, facettenreiche Bedeutung der eigenen Story nicht. Man hat dort nicht wirklich verstanden, in welchem Business Kodak ist. Wer nämlich nur Filme produziert, produziert genau so lange Filme, bis sie keiner mehr braucht. Das ist dann genau der Moment, in dem der Kodak-Moment vorbei ist. Wer aber im Business des „Wir bewahren kostbare Erinnerungen für immer“ ist und das nicht nur als Werbeplattform, sondern als Purpose, also als Story des Unternehmens versteht, der wird in der Geschichte des Unternehmens ein aufregendes Kapitel nach dem anderen erleben. 

Suche immer nach dem Schmerzpunkt.

Ein Konflikt, der Pain, der Inciting Incident, wird immer angestoßen: entweder von einem inneren Drang – zum Beispiel durch das unerträgliche Gefühl von Einsamkeit – oder von einem äußeren Konflikt: zum Beispiel durch ein Erdbeben; oder durch einen sozialen Konflikt: zum Beispiel durch Ausbeutung durch eine Regierung.

Durch diesen Anstoß gerät das normale Leben aus der Balance und muss im Verlauf der Geschichte wieder in eine neue Balance kommen. Dafür ist eine Leistung nötig, die von der Heldin durch eine Erledigung oder durch eine Erkenntnis erbracht werden muss, meistens durch beides gleichzeitig.

Sich verlieben, eine Idee haben, einen Wunsch, eine Krankheit, Hunger; die Katze hoch oben in der Baumkrone auf dem morschen Ast, Krieg, das neue Produkt und die neue Werbekampagne des Mitbewerbs, die Wirtschaftskrise, ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel, wie ihn die Auto- und die Fleischindustrie derzeit erleben; wir erwarten ein Baby – Konflikte haben tausenderlei Gestalten, große und kleine Ursachen und ebensolche Auswirkungen.

Ohne Konflikt beginnt keine Helden-Reise. Ohne Not bewegt sich kein gewöhnlicher Mensch in Richtung seines Schattens, über den es zu springen gilt, um auf der anderen Seite als verwandelter Held zu landen. Kein Unternehmen, keine NGO wurde jemals gegründet, ohne dass es zuerst ein Problem gab, das gelöst werden musste.

Wenn ich mit meinem Team Unternehmen auf der Suche nach ihrer Story begleite, dann ist deshalb also eine der ersten Fragen immer: „Where’s the pain?“ Wo ist der Schmerz, den Du linderst?

Die meisten beantworten die Frage falsch. Kodak hätte vermutlich gesagt: „Menschen brauchen perfekte Filme für ihre Fotos.“, anstatt: „Bilder – selbst die von unwiederbringlichen, einmaligen Ereignissen – verlöschen in der Erinnerung, wenn wir nicht die besten Möglichkeiten finden, sie für immer zu bewahren.“ 

Dort, am Beginn der Heldenreise, sprudelt die Quelle der Nützlichkeit eines Unternehmens. Dort zeigt sich, wo es hilfreich sein kann; dort bekommt eine Marke Bedeutung, dort wird sie Wert-voll und Sinn-voll. Genau so beginnt die Heldenreise eines Menschen mit dem Ziel, den Sinn zu finden und sich im Zweifel zu bewähren.

Der Gegenspieler bezieht seine – antagonistische – Kraft ebenfalls genau an dieser Stelle. In einem Thriller begegnet man diesem Gegenspieler oft gleichzeitig mit dem Inciting Incident. Dennoch – der Gegenspieler ist immer nur der personifizierte innere Konflikt eines Protagonisten in einer Geschichte.

In „Rocky“ kämpft Rocky zwar gegen Apollo Creed, sein wahrer Gegner ist aber er selbst, der alte Underdog-Rocky mit seinem geknickten Selbstwertgefühl, der im Ring endlich zeigen kann, dass er in Wahrheit das Herz eines Champions hat und sich schließlich selbst eingestehen kann: „Ich bin es wert, geliebt zu werden.“

Der Gegner eines Unternehmens oder einer Marke kann deshalb niemals die Konkurrenz sein. Für Kodak wäre das also niemals Agfa, oder Ilford, sondern das Vergessen, die erloschene Erinnerung …

Warum Du für Deine Story einen starken Gegner brauchst und wie Du den perfekten findest, dazu habe ich hier einige Gedanken aufgeschrieben.

Brandstory im Wandel.

Die Verwandlung der Marken-Story von Apple illustriert dieses Phänomen wunderbar. Im Jahr 1984 trat Apple bei der Einführung des Macintosh noch mit einer Story an, die einen Gegner von außen hatte. Im legendären Werbefilm 1984 wurde der übermächtige Konkurrent (IBM) als das Böse schlechthin beschrieben, der wie eben in Orwells „1984”-Dystopie die Menschen beherrscht und unterdrückt. Aber dann kommt der Befreiungsschlag, verpackt in den Macintosh, und wir können erleben, „… why 1984 won’t be like 1984“.  Eine starke Story über Freiheit und Befreiung.

Noch stärker hingegen, weil aus dem Markenkern und einer Zukunftsvision heraus entwickelt, war allerdings die Story aus dem Jahre 1997 zu Einführung des iMac. Mit „Think different“ wurde eine Brandstory geschaffen, die nicht nur zu einem Postulat für Generationen wurde und eine gemeinsame Sehnsucht vieler Menschen anstieß, sondern bis heute nachhallt und die Marke Apple mit einer positiven mystischen Aura umweht, der sie tatsächlich schon längst nicht mehr gerecht wird. 

Der Gegner in dieser Story ist kein Konkurrent, sondern das Gewöhnliche, Alltägliche, Fade, Althergebrachte, Bequeme. Diese Story treibt das Unternehmen als Verpflichtung nach innen und wirkt für die Marke involvierend nach außen. Dadurch entsteht ein Tribe, eine Kultur, ein Lebensstil, eine Bewegung. Der Pain erneuert sich täglich wie von selbst und reiht einen Inciting Incident an den nächsten. Eine Markenstory mit selbstnährender Wachstumsgarantie …

Der Gegner bist du selbst. Der Konflikt auch.

Konflikte, ihre Auslöser, unsere Gegner treten in einer Vielzahl von Gestalten auf, haben aber immer dasselbe Gesicht: unser eigenes.

Im Pain, im Konflikt werden wir auf uns selbst zurückgeworfen, vor allem, wenn dieser Konflikt ein Dilemma bedeutet. Da müssen wir raus aus unserem sicheren Hafen und uns zwischen zwei gleichwertigen Zielen entscheiden: zwischen zwei guten Zielen – oder wir müssen zwischen zwei Übeln das geringere erkennen und wählen. Meistens führt uns der leichtere Weg allerdings zum größeren Übel … 

Im Lösen von Konflikten zeigen und erkennen wir, wer wir wirklich sind. Da liegt ein Wurzelstrang für die Antwort auf unsere Ur-Frage: „Wer bin ich?“

Dafür hat uns die Evolution in unser humanes Betriebssystem die Story-App implementiert. Diese App updatet sich durch heftige Verwendung stets selbst und verleiht unserem Betriebs-System ein Upgrade. Und das absolute StoryApp-Super-Feature ist: Wir müssen Geschichten gar nicht selbst erleben. Wir upgraden uns auch, wenn wir Geschichten lesen, auf einer Bühne sehen, im wirklichen Leben beobachten, sie im Kino verfolgen … Großartig, oder?

Geschichten lassen uns wachsen, im besten Fall über uns selbst hinaus. Das tut weh, das verursacht Wachstumsschmerzen. Aber wie sagt man: Am Ende ist alles gut, und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende …

Darum sollten wir – als Unternehmen und als Menschen – stets mit offenen Augen, Ohren und Herzen durchs Leben gehen, damit wir erkennen, wo sich uns Inciting Incidents anbieten, diese wundervollen Einladungen zur Verwandlung. Ein kleiner Tipp: Dort wo’s besonders weh tut, liegt vermutlich die größte Chance auf Wachstum und Entwicklung.

Jeder Mensch, aber auch jedes Unternehmen – egal ob Weltkonzern, ob KMU/kleine und mittlere Unternehmen –, jede Organisation ist auf einer Reise unterwegs, ausgelöst durch eine Notwendigkeit, deren Erfüllung zum Sinn der Sache führt. Jeder braucht für seine eigene Wahrheit Sinn, eine Mission, einen Purpose, also mindestens einen archaischen Wert und die dadurch aktivierte Story, um die sich alles dreht. So gewinnt man gleichgesinnte Mitstreiter; so wird man zur Heldin der eigenen Geschichte.

Allen, die also sagen: „Für mich oder für meine Marke gilt das nicht!“, seien jene Worte ans Herz gelegt, die meine Großmutter, die alte Story Dudette, Karl Baedeker auf die Titelseite seines ersten Reiseführers schrieb: „No Story. No Glory.“

Jetzt teilen

Newsletter Abo