Markus Gull

Fühlst Du Dich auch nicht wohl?

Erinnerst Du Dich noch an den Schriftsteller Maximilian Glanz? Er schrieb zeitlebens an einem Roman unter dem Titel: „Woran es liegt, dass sich der Einzelne nicht wohl fühlt, obwohl es uns allen so gut geht.”

Geht’s Dir auch so?

Und ist das nicht die perfekte Überschrift für das Kapitel, in dem sich die Weltgeschichte derzeit befindet?

Wir leben in verstörenden Zeiten.

Früher einmal war der Sex schmutzig und die Luft rein, und unser Essen hat uns gesund gehalten. Heute ist das, was wir essen für die meisten Krankheiten und Todesfälle verantwortlich und gleichzeitig zerstört die Herstellung unserer Lebensmittel auch noch unseren Lebensraum.

Der Mensch, als emphatisches Wesen geboren, das alleine gar nicht leben kann, gefällt sich im Gegeneinander. Nicht nur in Rouge One wurden Rebellionen auf Hoffnung gebaut, heute gewinnt man Wahlen, in dem man anderen die Hoffnung nimmt.

Vielen geht es heute in jeder Hinsicht wesentlich besser als jemals zuvor, dennoch steigt der Anteil der Menschen, die in Armut leben seit zehn Jahren kontinuierlich an.

Soziale Medien erfreuen sich gerade dann besonderer Wirkung, wenn sie das Asoziale aufquirlen.

Wann hat „Wir” aufgehört, „miteinander” zu bedeuten?

Ja, wir leben in verstörenden Zeiten. Der ganz normale Wahnsinn, quasi.

Wer wird Millionär?

Über viele Jahrzehnte hat sich ein besseres Leben über „immer mehr“ definiert. Wachsen, wachsen, wachsen – zwischendurch einige Krisenjahre, aber dann wieder wachsen, dann wieder mehr. Was denn sonst?

Da blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken. Arbeiten um zu leben oder leben, um zu arbeiten? Völlig egal! Die Zeit zwischen „I don’t like mondays“ und „Thank god it’s friday“ ist immer noch irgendwie vergangen und dann ist ja eh schon wieder schönes Wochenende.

Das nennen wir dennoch hartnäckig Zivilisation.

#WasIstDasFür1Leben

Genau darüber denkt plötzlich eine rasant wachsende Menschenmenge auf ganz unterschiedlichen Ebenen nach, besonders viele aus der Generation der unter 40-Jährigen, die außer Wachstum und Wohlstand kaum etwas erlebten.

Konsum als einer der beliebtesten Tranquilizer funktioniert dort bei weitem nicht mehr so wie früher. Im Gegenteil.

Nach all den Jahren, in denen wir Seminare besuchten, um zu lernen, wie wir einen Haufen Geld verdienen, damit wir uns viele Sachen kaufen können, geben wir jetzt einen Haufen Geld für Seminare aus, in denen wir lernen, wie wir diese Sachen wieder los werden. Magic Cleaning, Digital Detox, Simplify your … everything. Im Haben-Haben-Haben finden immer weniger Menschen ihren Sinn bzw. gelingt es ihnen immer weniger, die Sinnlöcher damit zu stopfen.

Was bin ich?

Im Gegenteil: Wirf einen Blick in die Special Interest Regale von Zeitschriften- und Buchhandlungen oder check mal Seminarprogramme im Web – die Menge an Angeboten, die aus der Themenwolke „Finde deine wahre Bestimmung, deine Berufung, dein Calling“ abregnet, schwillt zur Sintflut. Persönlichkeits-Entwicklungsprogramme ohne Ende sind zur Industrie gewachsen, Motivations- und Inspirations-Speaker sind gefragt wie nie – zum Glück, ich bin einer von ihnen. Irgendetwas scheint den Menschen massiv zu fehlen, und jetzt bemerken sie es nach und nach.

Das gilt naturgemäß für Unternehmen gleichermaßen.

Die Top 5-Anlässe, aus denen meine Beratungsleistungen angefragt werden, sind:

  1. Wie sollen wir mit unserer Werbung weiter machen, wenn doch Werbung in Wirklichkeit nicht mehr funktioniert?
  2. Wie können wir die besten Leute für unser Team gewinnen?
  3. Wie gehen wir mit der Digitalisierung um?
  4. Wie werden wir innovativ?
  5. Wie sollen wir unsere Website neugestalten.

Was auch immer gefragt wird, das Erstgespräch ist meist noch keine zehn Minuten alt, bis wir auf die eigentliche Frage stoßen: „Wer sind wir – und warum?” In der Regel werden dann das Leitbild oder die Unternehmensleitsätze herausgekramt, die in langen schwierigen Prozessen gemeinsam entwickelt und schließlich, nachdem sich ja dann doch noch alle auf etwas einigen konnten, verabschiedet wurden. Das ist die Stelle, wo meine Fähigkeit, gleichzeitig höflich und ehrlich zu sein, dem Bruchtest unterzogen wird. Meistens lüge ich, denn ein Mann, der die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd, aber ich habe nicht einmal ein Auto.

Die Wahrheit sollte nämlich in harschem Ton vorgetragen, oder noch besser mit frisch gezapftem Nasenblut an die Wand geschrieben werden: „Seid ihr verrückt? Das soll euch von anderen Unternehmen unterscheiden? – Geht ins nächstbeste Unternehmen und fragt dort nach dem Leitbild. Es wird der gleiche Schwampf sein, wie eures. Das ist der Grund, weshalb ihr euch selbst an keinen einzigen Satz euers Leitbildes erinnern könnt. Wozu auch …”

Leit-Bild, hallo?!? Welches Bild? Wohin leitet es? Wen und warum?

Kleiner Selbstversuch gefällig? – Nimm spaßhalber dein Leitbild zur Hand und stell dir nach jedem Satz die Frage: „Anstatt von …?“ Also z. B.: „Wir wollen unseren Mitarbeitern sichere Arbeitsplätze bieten, an denen sie sich optimal entfalten können.” – Anstatt von „… unsichere Arbeitsplätze für doofes Menschenmaterial …”?!?

Wer bist du – und warum? Das ist die Grundfrage unseres Menschseins und bestimmt unsere gesamte irdische Anwesenheit und für Unternehmen die Über-Lebensfrage. Die meisten hatten auch früher darauf keine Antwort, aber jetzt, in diesen Zeiten, in denen wir uns befinden, wird das offensichtlich.

Alles oder nichts.

In diesen Zeiten wird nämlich alles offensichtlich, schonungslos. Danke WorldWideWeb.

Google selbst ist dafür das perfekte Anschauungsbeispiel. Google schafft Übersicht über das WorldWideWeb und stürzt uns durch das Immer & Alles gleichzeitig in die totale Orientierungslosigkeit.

Wir sehen alles. Ob wir wollen oder nicht und ob es stimmt oder nicht. Den Unterschied können wir kaum erkennen und den Sinn schon überhaupt nicht.

Über Jahrhunderte ist es gelungen, das klaffende Sinn-Loch zu überdecken. Mit Betriebsamkeit, Funktionieren, Ablenkung, Lautstärke, Lärm, Konsum. Mit Preispromotions, Werbekampagnen, Werbedruck, Geschrei, Getue, Gefuchtel …

Das geht sich nicht mehr aus.

Wer mich kennt weiß, dass ich Jahrzehnte als Werbekreativer am Buckel & Kerbholz habe, und ich gebe zu: Wir hatten durchaus schöne Zeiten miteinander. Die Zeiten konnten auch deshalb schön sein, weil sie gänzlich andere waren als die heutigen.

Was Tag für Tag unter dem Begriff Werbung an Geld, Intelligenz, Kreativität, Lebenszeit und Substanz hinausgeballert wird, und am Ende kommt die nächste Geschichte raus, in der ein blödes Schwein mit einem blöden Bauern spricht? Oder eine verhaltensauffällige Familie, die in einem Möbelhaus lebt? Oder ein Auto, das zu „sphärischer Musik in ungewöhnlichen Perspektiven gefilmt, in dynamisch geschnittenen Sequenzen seine Spur durch die Schluchten der Großstadt schneidet?“ Ein Volltrottel, der im Entenwatschelgang durch sein Country hampelt und dann glücklich in seinen Schokoriegel beißt, während seine doofe große Schwester im Pinguinwatschelgang ihre Kinder in die Küche lockt und sie dort mit einem Emulgatoren Gemisch belohnt? Eine bekannte, ausgezeichnete Schauspielerin, die im steckengebliebenen Aufzug in eine Mineralwasserflasche singt?

Geht’s noch?

Ganz ehrlich: Das ist das Beste, was mit aller Anstrengung und diesen enormen Budgets rauskommt?

Zweifellos ist augenblicklich eine Expertengruppe zur Stelle, die den nachweislichen Erfolg jedes Werbespots auf einigen PowerPoint-Slides präsentiert. Durchfall ist auch erfolgreich: Am Ende ist die ganze Scheisse draußen.

Bitte! Reißt euch ein bisschen zusammen! Ist das wirklich alles, was ihr euch zutraut? Glaub ich nicht!

Hart aber herzlich.

Unternehmen haben eine verantwortungsvolle Aufgabe auf der Welt, nach innen und nach außen. Unternehmen haben die fast einmalige Chance und den noblen Auftrag, ein Vakuum zu schließen, das sie zu einem großen Teil sogar mit erzeugt haben.

Das Leben des Menschen hat keinen intrinsischen Sinn. Er sucht sich den Sinn über Werte, Bedeutung und Beziehungen. Das gibt Orientierung. Lange Zeit fanden wir einen Gutteil dieser Orientierung – jedenfalls scheinbar – in dem was wir kaufen. Hier liegt ein riesiger Verantwortungsbrocken, der sich in den richtigen Händen in einen funkelnden Diamanten namens Sinn verwandelt.

Ein Unternehmen, das ein so genanntes Narrativ entwickelt, kann verantwortungsvoll Orientierung bieten. Nach innen und nach außen. Dann beantworten sich die Fragen nach Werbung, Mitarbeiterfindung, Digitalisierungswegen, Innovationszielen und Websitegestaltung nahezu von selbst. Dann sprudeln Quellen für Begeisterung und Werterzählungen ohne Ende.

Dann entsteht ein Leitbild, an das sich die Menschen nicht nur erinnern, sondern eines, das sie niemals mehr vergessen. Think different. Just do it!

Die apokalyptische Inhaltsleere von Politik reißt eine riesige Lücke ins Leben der Menschen. Politiker schwänzen ihren Beruf und gerieren sich bestenfalls als Projektionsflächen, anstatt ihren verdammten Job als Projektor zu tun. Da lebt allerorten eine ganze Generation alerter Darsteller in modischen, dennoch meist schlecht geschnittenen Anzügen von der Verwechslung ihrer – durchaus hocherfolgreichen  – Performance mit der dringend notwendigen Aufgabe von Anführern in eine Zukunft, in der es allen(!) Menschen besser geht als heute. Das ist fast so als würde man den – durchaus hocherfolgreichen – Performance-Act Helene Fischer mit einer Musikerin verwechseln.

Die allermeisten Anführer von heute führen uns bestenfalls hinters Licht, vermutlich aber an der Nase herum, schnurstracks in die Irre.

Cobra, übernehmen Sie.

Genau hier haben Unternehmen ihren Verantwortungs-Hebel anzusetzen, zumal in einer Zeit, in der Wirtschaft alles umfasst und durchdringt. Die österreichische Wirtschaftskammer pflegte viele Jahre lang den Claim „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut.” Das mag unter Umständen ein wenig zu kurz gedacht sein. Kein Zweifel herrscht jedoch, dass es uns allen schlecht geht, wenn es der Wirtschaft schlecht geht, weil Wirtschaft nun einmal wir alle sind.

Die Stichwörter „Wirtschaft” und „Unternehmen“ sind also nicht die nächstbeste Hintertür in die Ausrede, man wäre damit nicht gemeint. Unternehmen und Wirtschaft sind ja nicht fette Wirtschaftsbonzen und übermächtige Systeme. Unternehmen sind wir Menschen, die auf der Suche nach unserem Sinn und unserer Bestimmung Entscheidungen treffen. Dabei sollten wir mehr von uns verlangen als nur unseren Job gut zu machen, denn erst dann entsteht unser eigener Sinn.

Es sind verstörende Zeiten und gleichzeitig spannende Zeiten, in denen wir leben, definitiv gibt’s keine Gelegenheit zur Langeweile.

Und es sind Zeiten, in denen die Vermittler von Werten, Visionen und Leitbildern so nötig sind wie selten zuvor. Projektoren, die ein Bild an die Wand werfen und Menschen gewinnen, dieses Bild gemeinsam mit Farbe und Leben zu füllen.

Bilder von einer Zukunft, in der der Mensch die Digitalisierung zum Vorteil aller nützt, und sich nicht im verzweifelten, sinnlosen Versuch, die bessere Maschine zu sein, selbst abschafft. Eine Zukunft, in der Innovationen jedes Unternehmens den Erfolg der Company genauso nähren wie sie Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen anbieten. Das wird Menschen anziehen, die für genau solche Unternehmen arbeiten wollen, weil sie Gleichgesinnte sind im Wort und in der Tat. Sie werden darüber erzählen, die gemeinsame Story teilen und die verantwortlichen – ehemaligen – Werbeleute werden etwas machen, was die Menschen bewegt, weil es ihnen nützt, jenseits von Werbung.

Velux hat all das offenbar in vortrefflicher Weise verstanden und im Projekt The Indoor Generation meisterlich umgesetzt. Die Website spricht für sich selbst, der Film sowieso.

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Unsere Zeiten brauchen Storys, Storyteller und noch mehr: Story-Sharer. Die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, hat die Evolution in uns Menschen einprogrammiert. Sie ist eines der mächtigsten Werkzeuge überhaupt, das uns zur Verfügung steht. Die Prinzipien von Story sind sehr einfach und universell gültig, über Generationen und Kulturen hinweg. So wurde der Neandertaler zum Homo sapiens – Homo narrans – Homo ludens – Homo faber …

Lasst uns diese Fähigkeit nützen, mit aller Kraft und dringlichst gebotener Verantwortung. Denn kein Werkzeug kennt Moral. Was der Hammer tut, bestimmt der Mensch, was gepostet wird, bestimmt der User. Barack Obama hat einen twitter-Account genauso wie Donald Trump.

Martin Luther King jr. hatte keinen twitter-Account, aber den Traum, dass irgendwann „Wir” „miteinander” bedeutet. Das sind geteilte Werte, geteilte Sehnsucht, geteilte Story.

Wenn du also nicht nur über Haben, Haben, Haben oder den Preis reden, sondern respektvoll mit deinem Publikum über Werte ins Gespräch kommen willst, dann involviere die Menschen mit einer für euch beiden relevanten Story und stifte Sinn. So macht man das heute, als Unternehmen jenseits von Werbung und als Person gleichermaßen.

Genau das meinte meine Großmutter, die alte Story Dudette, als sie einst Maximilian Glanz, als der von einer Schreibblockade geschüttelt verzweifelt in die Manuskriptseiten seines Romanes weinte, zuflüsterte: „No Story. No Glory.“

P.S.: Maximilian Glanz und sein Roman entspringen Helmut Dietls Phantasie und wurden in der zwölfteiligen Fernsehserie „Der ganz normale Wahnsinn“ aus dem Jahr 1979 ins Bild gerückt. Die Serie war damals Kult, man sagte nur noch nicht Kult. Geil sagte man auch noch nicht. Unter Berücksichtigung der Epoche bereitet ein Wiedersehen durchaus Vergnügen, jedenfalls nostalgisch-folkloristisches. Wir hatten ja sonst nichts. Außer schmutzigen Sex und reine Luft.

Orientierung

P.P.S.: Lesebefehl!
 Weil wir schon beim Thema „Sinn und Wohlfühlen” sind: Mein Freund Andreas Salcher, real existierender mehrfacher Bestseller-Autor, hat wieder einmal ein wunderbares Buch geschrieben: „Das ganze Leben in einem Tag”. 
Die Methode, das ganze Leben in einem Tag zu sehen, eröffnet ungeahnte Möglichkeiten: Alle wichtigen Themen, die normalerweise langsam über Jahre reifen, und Ereignisse, die sich über lange Zeiträume aneinanderreihen, werden mit einem Mal aus neuer Perspektive erlebbar. Plötzlich tauchen neue, wichtige Fragen auf, selbst wenn es bereits so wie bei mir Nachmittag,aber der Rückspiegel noch längst nicht das bevorzugte Fenster für den Blick ins Leben ist.

Andreas Salcher schreibt über den erkennenden Menschen, der seinen Verstand zu nutzen weiß, den suchenden Menschen, der über seine eigene Existenz hinausdenkt, den verzeihenden Menschen, der mit sich und anderen im Reinen ist, den neugierigen Menschen, der nie aufhört zu lernen, den verletzbaren Menschen, der zu Liebe und Mitgefühl fähig ist. Er schreibt letztlich darüber, wie jeder von uns – immer wieder und aufs Neue – den Sinn seines Seins entdecken kann und gibt Inspiration, Erkenntnis und Verständnis für sich selbst und die Begegnung mit anderen. Ein Buch das den Leser bewegt und etwas im Leser bewegt und jedenfalls den Fokus auf Empathie schärft, die Mangelware in unseren seltsamen Zeiten des Überflusses. Danke, Andreas Salcher!

Der Link zu Amazon ist als Service zum Weiterschnüffeln gedacht und dafür, falls du sofort deinen Kindle füttern willst. Jede stationäre Buchhändlerin freut sich über einen Einkauf und besorgt jedes Buch im Handumdrehen – mitunter wird die Hand halt zwei- oder dreimal umgedreht … Die Belohnung dafür: Bei einem Besuch in der Buchhandlung gibt es immer wieder vieles zu entdecken, und auch ich freue mich über einschlägige Tipps von Story Insidern – nicht nur aus der Sach- & Fachbuch-Ecke.

 

 

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