Markus Gull

Die Geschichte vom Ungeziefer Mensch.

Die Story vom Ungeziefer Mensch.

Hier greife ich zur Abwechslung mal als Blockbuster-Autor in die Tasten, und zwar im allseits beliebten futuristischen Thriller-Genre. Und das geht so:

Es mutet an wie eine biblische Heimsuchung. Zwar staut sich im Canyon des kanadischen Fraser River am Talboden oft die Hitze, dennoch war in „Canada’s Hot Spot“, dem 250-Seelen-Dorf Lytton, niemand drauf vorbereitet, was an diesem denkwürdigen Sonntag geschieht: Das Thermometer zeigt fast 50 °C – im Canyon herrschen mittlerweile Bedingungen wie in der Wüste. Ein dort in der Gegend vorbeifahrender Zug löst mit einem Funken einen Waldbrand aus, wenige Stunden später ist das benachbarte Dorf Lytton Geschichte: abgebrannt. Bedingungen wie in der Wüste? Wohl wie in der Hölle.


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Der pazifische Inselstaat Kiribati versinkt im Ozean, in Sibirien kommen Häuser auf kollabierend-tauendem Permafrostboden ins Rutschen, im Westen Deutschlands überschwemmen Regenmengen im Ausmaß von 150 Liter/m2 Städte, das Disaster zieht dann in den Süden Europas weiter. Bedeutet das etwa Hoffnung für Catania? Denn dort in Sizilien fressen sich gierige Flammen bereits bis in die Großstadt vor. In Griechenland und in der Türkei leiden die Menschen unter den Temperaturen von weit über 40°, die selbst nachts nicht unter 30° sinken. Brände wüten, die Feuerwehren sind nahezu machtlos.
In Kalifornien, Arizona, Nevada und Utah sind Hitze und Trockenheit zum Dauerzustand mutiert, im Südwesten der USA herrscht seit zwei Jahrzehnten eine Megadürre, die in Kalifornien sogar Klapperschlangen in die Siedlungen treibt und in Utah den Wasserstand des Lake Powell um 43 Meter sinken ließ, während Oregon von einer Heuschreckenplage heimgesucht wird. Im Westen der USA toben mit jedem Jahr der Trockenheit noch schlimmere Feuer, zerstören, zerstören und zerstören alles – einschließlich aller Bemühungen, die Treibhausgase zu mindern.
In Helsinki und Moskau werden Allzeitrekorde an Höchsttemperaturen gemessen, in Sibirien kämpfen Armeen von Feuerwehrleuten gegen Brände, mehr als eine Million Hektar stehen bereits in Flammen, mancherorts schwelt die Glut inzwischen ganzjährig in den Torfböden. Eine Wärmekuppel über dem Nahen Osten treibt die Temperatur am Persischen Golf über die 5-Grad-Schwelle. In Afghanistan herrschen die Taliban und der Hunger, denn die Trockenheit bedeutet Lebensmittelnotstand für Millionen. Das UNO-Welternährungsprogramm warnt vor einer beispiellosen Hungersnot auf Madagaskar. Mancherorts sind Heuschrecken die einzige Nahrung, die den Menschen dort geblieben ist.
In Angola leidet die Bevölkerung unter Dürre, der schlimmsten seit 40 Jahren, ein großer Teil der Ernte ist verloren, Rinder verdursten. Brasilien bangt um seine Stromversorgung, weil der Rio Iguaçu an den großen Wasserfällen nur noch ein Fünftel seines Wassers führt, und auch am Paraná-Fluss, der eines der größten Wasserkraftwerke der Welt antreibt, herrschen historische Tiefstände.
In Taiwan bleiben die regenreichen Taifune aus. Wenn Taiwans Reservoirs, aus denen die Chiphersteller ihr Wasser beziehen, trockenfallen, drohen der weltweiten Computerindustrie Probleme.
4.000 Kilometer weiter westlich, in Chinas größter Wüste, fällt binnen eines Monats so viel Niederschlag wie sonst in zwei Jahren. In der Metropole Zhengzhou am Gelben Fluss laufen U-Bahn-Tunnel voll Wasser. Hunderte Menschen sind in Zügen eingeschlossen, in der Stadt sterben mindestens 108 Menschen.
Die gesamte Menschheit wird währenddessen von einer tödlichen Seuche bedroht, deren Virenstamm in immer neuen Mutationen die Wissenschafter in Atem hält, während weltweit eine Frage die Headlines bestimmt: „Sind das alles noch viele schlechte Nachrichten, oder hören wir bereits den Hufschlag der apokalyptischen Reiter?“
Fortsetzung folgt. (Vielleicht aber auch nicht …)

Kein schlechter Anfang für einen Roman, was? Sollte ich beruflich machen, oder? Allerdings stammt dieses Panorama an Phänomenen, die sich international zu einem zukünftigen Weltuntergangsszenario verweben, als hätten es sich Autoren wie Marc Elsberg („Blackout“) oder Frank Schätzing („Der Schwarm“) ausgedacht und als sei es gar nicht aus meiner Feder. Und auch nicht aus der Zukunft. Ich hab die Passage nahezu wörtlich vom Beginn eines Artikels in Der Spiegel 32/2021 abgeschrieben. Dort dokumentieren die Autoren Francesco Collini, Johann Grolle und Thomas Milz, wie es sich akut auf Erden abspielt. Nicht von schlechten Eltern, was? Die Eltern sind übrigens wir. Wir, die Menschen, die Hauptdarsteller im Anthropozän, jener Epoche in der Erdgeschichte, in der nichts so viel Einfluss auf den Zustand unseres Planeten hat wie das, was der Mensch tut und tat. Und nicht tut. Diese Einleitung sehen wir also nicht nur in Der Spiegel, wir sehen darin auch uns im Spiegel. Und unsere Zukunft allemal, was insofern besonders gut passt, weil wir Österreicher uns die Zukunft besonders gerne im Spiegel ansehen, vorausgesetzt, es handelt sich dabei um einen Rückspiegel. Da haben wir also den Salat, den vertrockneten.

Es geht uns immer besser.

Ich weiß schon, es gibt im Gegensatz zu den Dystopien auch eine völlig andere Story: Der Menschheit geht’s prächtiger als je zuvor. Die Statistik spricht eine klare Sprache, wie man in „Factfulness“ von Hans Rosling gut nachlesen kann. Allerdings kennen wir auch die Truthahn-Illusion aus der Risikoforschung, die kurz gesagt erklärt, dass es einem Truthahn statistisch gesehen noch nie zuvor so gut gegangen ist wie am Tag vor Thanksgiving. – Welcome to the Truthahnozän.

Eine Woche nach dem besagten Artikel im Spiegel stieß ich in einer Tageszeitung auf ein Interview, das die Fernseh-Ikone Sepp Forcher anlässlich seines 90ers dem Redakteur Peter Gnaiger gab. Forcher, ein Mann, der abseits vom ungustiös Tümelndem seine leidenschaftliche, liebevolle Freude an Natur, Brauchtum und Heimat in Hörfunk, TV und Büchern vielfach geteilt hat. Betitelt mit „Weise Worte von fast ganz oben“ sagte der wackere Mann dort unter anderem: „Wenn man weiß, wie alt unsere Erde ist, dann sieht man den Klimawandel wieder mit Gelassenheit. Denn die Erde wird es immer geben. Aber das größte Ungeziefer auf der Welt bald nicht mehr. Und das ist nun mal der Mensch.“ Dieser Sager schlug bei der Redaktion so treffsicher ein, dass er zusätzlich eine große Heraushebung bekam: „Wir müssen uns eingestehen: Das größte Ungeziefer ist der Mensch.“

Was für eine bildkräftige Erzählung: Die Erde wird’s ewig geben, und zwar trotz des Ungeziefers Mensch. Diese Geschichte hat nur einen einzigen Fehler: sie ist falsch.

Sehen wir einmal davon ab, dass es, wenn man der Wissenschaft glauben darf, die Erde nicht ewig geben wird, falls es sowas wie ewig gibt, und den Menschen erst recht nicht. Schließlich basteln wir ja unter dem Arbeitstitel Artificial Intelligence bereits an unserem Nachfolgemodell. Aber was weiß denn die Wissenschaft, und was weiß denn ich. Und übersehen wir auch, dass die Bezeichnung vom Menschen als Ungeziefer ein bissel heftig an eine Zeit erinnert, an die sich ein 90-jähriger g’scheiter Kopf heftig erinnern können sollte.

Was über alledem am schwersten falsch wiegt, ist, dass die Geschichte: „Der Mensch als überflüssiges Lebewesen“ genauso verkehrt ist wie die Geschichte „Der Mensch als Beherrscher der Welt“. Wir sind weder das eine noch das andere.

Die gute alte Geschichte von uns allen.

Die alte Geschichte, die wir einander erzählen, seit wir einander Geschichten erzählen, die vom Menschen als Beherrscher der Erde, diese Geschichte hat ja allerlei vorwärtsbewegt. Wer kurz einen Blick auf die Lebensumstände der Neandertaler wirft und dann heute einensagen wir mal in ein Forschungslabor, in eine Einkaufsstraße oder in eine Lebensmittelfabrik, der bekommt eine Ahnung, was durch diese Story an Fortschritt in Bewegung kam. Kontinente wurden „entdeckt“, Bodenschätze gehoben, Land wurde urbar gemacht, Staaten wurden gegründet, Verkehrswege erschlossen, Tiere genutzt, Städte errichtet, viele Naturgewalten bezwungen, Krankheiten ausgerottet, Religionen begründet, Feinde niedergerungen, dem Guten wurde zum Durchbruch verholfen, Siege wurden errungen, Spitzenleistungen erbracht.

Wenn das keine Erfolg ist, was ist denn dann bitte einer? – Ach ja: Fortsetzung siehe oben.

Wenn man allerdings einen Blick auf die russig-qualmende Stelle wirft, wo bis vor kurzem noch in Lytton die Wäsche zum Trocknen draußen hing, dann schleicht sich nicht nur bei mir langsam der Gedanke ein, dass irgendwas dann doch nicht so ganz ideal gelaufen sein könnte, mit der Story „Der Mensch als Beherrscher der Welt“. Trotz ewigem Bestseller-Status. Möglicherweise hängt der Fanclub dieser Story, also wir, irgendwo zwischen Truthahn-Illusion und den großen narzisstischen Kränkungen der Menschheit fest und ist überreif für etwas, dass ich narzisstische Ent-Täuschung nennen will? Mehr als überreif für ein Aufwecken aus dem narzisstischen Missverständnis, der Mensch sei als – derzeitige – Krone der Schöpfung konsequent deren Beherrscher?

Vielleicht braucht es ja eine ganz neue Story?

Weg mit uns Menschen!

Das klingt jetzt aber doch sehr nach dem Stichwort für den Forcher-Sepp, der sich von fast ganz oben zu uns herablässt und neben einem Paar Landjäger, einem Stückl altem Käse und einem Scherzl Brot auch noch die Geschichte „Der Mensch als größtes Ungeziefer“ aus seinem Rucksack zaubert. Könnte das die neue Geschichte sein, die uns aus dem narzisstischen Missverständnis beutelt? Ganz ehrlich: vom Beherrscher der Welt zum größten Ungeziefer, das ist schon ein zünftiger Beutler. Der reißt sogar einen Bären aus dem Winterschlaf. Und eine Verwandlung ist das weiß Gott auch, und damit läge schon einmal ein stabiler Story-Bogen am Tisch, mit dem sich arbeiten ließe. „Rag to Riches in revers“, könnte man das pitchen, die Geschichte vom gefallenen Engel, eine Paraphrase auf die österreichische Politiker-Karriere: „Vom Millionär zum Tellerwäscher“.

Im Ernst: Ging’s dem Planeten nicht wirklich wesentlich besser, wenn’s uns Menschen nicht gäbe? Ich meine: wem haben wir gefehlt? Wem würden wir fehlen? Den vielen Viechern, die wir ausgerottet haben, bestimmt nicht. Dem Klima auch nicht. Und dass die Natur ohne Menschen ziemlich gut zurechtkommt, lässt sich ja überall dort trefflich beobachten, wo naturbelassene Zustände herrschen. Nach uns Menschen kräht dort kein Hahn, und die ernähren sich immerhin im großen Stil von Ungeziefer.

Andererseits: Was ist denn schon Ungeziefer? Das kommt auf die Perspektive an, oder um es mit Max O’Rell zu sagen: „Ob eine schwarze Katze Unglück bringt, hängt davon ab, ob man ein Mensch istoder eine Maus.“ Ob Heuschrecken Ungeziefer sind, hängt davon ab, ob man in Oregon lebt oder in Madagaskar. Und manch vormals glücklicher Hahn landete bereits am 4.000-Euro-Weber-Grill des stolzen Ungeziefers. Oder in dessen Thermomix. – Truthahn-Illusion, wohin man schaut.

Wem fehlt denn der Mensch?

Was würde also fehlen, wenn dieses Ungeziefer fehlte, wenn der Mensch fehlte? – Der Mensch!

Der Mensch, der er sein könnte, der er sein sollte, würde fehlen.

Der wir sein könnten, sein sollten. Wir: du und ich.

Dieser Mensch fehlt, seit … ewig, beinahe.

Jedenfalls, seit wir begonnen haben, uns selbst und einander diese vermaledeite Geschichte „Der Mensch als Beherrscher der Welt“ in ihren unzähligen Varianten zu erzählen, zu verstehen, und dann also die Geschichte des Menschen gründlich miss-zu-verstehen. Die innere Geschichte nämlich, die, die uns alle mit allem verbindet.

Wenn wir davon ausgehen, dass im unendlich verbundenen Zusammenspiel allen Lebens auf diesem Planeten keine überflüssige Art existiert, dann gilt das doch erst recht für die derzeit am höchsten entwickelte Spezies, also für uns Menschen. Was könnte also unsere Aufgabe sein? Was könnte unser Beitrag sein? Ich vermute das, was andere Lebewesen nicht können, also reparieren, heilen, für andere etwas erschaffen.

Das kann der Mensch nicht nur als einziges Lebewesen, er muss es sogar tun, damit er gesund bleibt, wie man aus eigener Erfahrung längst und durch die Glücksforschung belegt weiß: Das beste, was man fürs eigene Glücklichsein tun kann, ist, andere dabei zu unterstützen, ihr Glück zu finden. Abraham Maslow hat in ähnlicher Erkenntnis seiner fünfstufigen Bedürfnispyramide in den 1970er-Jahren noch ein Penthouse draufgehabt. Über der Selbstverwirklichung wohnt dort nun die Transzendenz – also die Möglichkeit, ein gemeinsames Bewusstsein mit anderen zu teilen, das weit über die eigenen Grenzen hinausgeht, und so Sinn jenseits der persönlichen Entwicklung zu erfahren. Ein bissel mehr dazu steht in diesem Blogartikel.

Das ist doch eine Geschichte, mit der sich die Überhitzung des Planeten so nachhaltig herunterdrehen lässt, wie nachhaltig verstanden werden will, also jenseits des reflexartigen Nachhaltigkeitsgewäschs, das jeder meint, so nachhaltig in alle Kommunikationskanäle absondern zu müssen wie bislang nur CO2 in die Atmosphäre. Ließe sich mit der Geschichte „Der Mensch als Heiler und Createur auf Erden“ nicht eine neue (eigentlich archaisch alte) Verbundenheit erlebbar machen, die die Überhitzung aus allem herausnimmt, vor allem auch die im Umgang miteinander, sei’s auf politischer Ebene, sei’s auf den angeschmierten Klowänden der beleidigten Beleidiger, die unter der missverständlichen Bezeichnung Soziale Medien bekannt sind?

Die neue Geschichte von uns allen.

Das wäre doch eine neue Geschichte und gleichzeitig eben eine ur-ur-alte, die Geschichte von uns allen, die Geschichte von allem: die Geschichte von der Verbundenheit des Lebens in allen seinen Existenzformen in gegenseitiger Unterstützung. Wir Menschen dürfen uns in dieser Geschichte meinetwegen weiter an der Spitze der Entwicklung sehen, wir brauchen bloß unsere Perspektive zu wechseln: vom Beherrscher zum guten König. Einer, der „… zuerst immer fragt, was er geben kann …“, wie Mufasa, der alte König der Löwen seinem Sohn Simba als vermutlich wichtigste Lektion mit ins Leben gibt, am Anfang seines Circle of Life. Zu dem, was Königsein bedeuten kann, hab ich hier noch etwas aufgeschrieben.

Ja, diese neue Geschichte ist so archaisch und so alt, dass wir sie bereits seit immer wussten und uns in unzähligen Varianten ebenso lange erzählen, sogar im Disney-Universum.

„Macht euch die Erde untertan“ heißt es in der Schöpfungsgeschichte, die in der Bibel erzählt wird. Wurzelt dort etwa das narzisstische Missverständnis, die Verwechslung von Herrscher mit König, von Ausbeuterin mit Nutzerin, der tiefe Widerspruch zwischen dem, was wir wollen und dem, was wir brauchen?

Wir Menschen sind zutiefst widersprüchliche Lebewesen in unserem Denken, Wollen und Handeln. Die Räume dazwischen sind mit unserem freien Willen gefüllt und der Freiheit unserer Entscheidung.
Wir haben Bewusstsein, werden aber häufig vom Unterbewusstsein gesteuert.

Wir haben als einziges Lebewesen ein Gewissen, handeln aber als einziges gewissenlos.

Wir sind die einzige Spezies, die den Lebensraum verbessern kann, sind aber die einzige, die ihn vernichtet.

Wir wissen, was richtig ist, und handeln, wie’s am bequemsten ist.

Wir missverstehen, was wir verstehen.

Wir treffen unsere Lebensentscheidungen nach denselben Kriterien, nach denen unsere alte Tante die Qualität eines Sofabezuges beurteilte: Das Wichtigste war die „dankbare Farbe“. Anders gesagt: Das Sofa ist zwar saudreckig, aber man sieht’s nicht, und gewaschen wird, wenn’s stinkt. Also zu spät.

Wir überschütten uns gegenseitig im Außen mit lautstarken falschen Antworten auf die richtigen Fragen, die wir uns im Innen dringend stellen sollten, in der Hoffnung, dass wir so „die Natur“ retten können. Als wären wir in der Natur und nicht die Natur ins uns, wären nicht wir die Natur.

Ein kürzlich erschienenes Buch, „You are Nature“ von Anna Zemann, beschäftigt sich gleichermaßen eindringlich, erkenntnisreich und erhellend mit dieser Widersprüchlichkeit und bietet gleichzeitig eine Menge hilfreicher Handreichungen für jeden von uns selbst und damit für uns alle. Und zwar inspiriert von ihren hautnahen Erfahrungen in der im Außen gelebten Welt und angestoßen von Reisen in die innere Welt – im lehrreichen Umweg über Afrika – schickt uns Anna Zemann eine knüppeldicke und knüppelharte Erinnerung im Samthandschuh, und das ohne erhobenen Besserwisserzeigefinger, sondern aus erlebter, tiefer Selbsterkenntnis und deshalb eben erfreulich authentisch.

Es ist allerhöchste Zeit, dass wir aus diesem narzisstischen Missverständnis aufwachen, das uns glauben lässt, alles und jeder sei eine Quelle, die wir zu unserem eigenen Nutzen restlos ausbeuten können – beginnend mit den Bodenschätzen bis hin zu den – was für ein Begriff! – „Human Resources“. Da ist der Weg zum Menschenmaterial nicht mehr weit und auch das Wundern darüber nicht mehr groß, dass alles in irgend einer Form zum Markt wird, eine Funktion braucht, einem (persönlichen) Ziel zu Diensten sein muss.

Purpose? – Hat man jetzt!

Kein Wunder ist es auch, dass die zunehmende Menge von Menschen, deren Aufmerksamkeit in diese Richtung erwacht, schnell als neuer Markt entdeckt wird, als Zielgruppe angesprochen und als Quelle für gute Geschäfte ausgeschöpft werden will. Da wird abgesahnt und abgarniert. Achtsamkeit, Wertschätzung, Nachhaltigkeit und Purpose sind heute Fachausdrücke, die mittlerweile vermutlich öfter in Marketing-Abteilungen zu hören sind als von CSR-Verantwortlichen.

Heissa, der Purpose! Wer heute als Unternehmen keinen „Purpose“ hat, rennt praktisch mit offenem Hosenstall durchs Dorf. Purpose ist der Biz-Trend, den brauchst du wie ein TikTok-Profil. Als Belohnung sind Wokewashing, Greenwashing, Purposewashing, Meanwashing, Greencashing – die Spielarten des alerten Abgreifens eines über die Nische hinauswachsenden Bewusstseins – Legion. Hier teile ich noch einige weitere Gedanken dazu und darüber, wie man sich und seinem Anliegen auf die Schliche kommt.

Das Fatale am Bullshitgegurgle: Purpose ist tatsächlich der Lebensnerv für jede kraftvoll lebensfähige Marke, für jedes resiliente Unternehmen abseits des Neo-Blassgrünen-Abkassierer-Straßenstrichs. Das bemerke ich gänsehautnah in meiner täglichen Arbeit mit vielen Unternehmen, die nach etwas suchen, was ihnen fehlt, es aber nicht artikulieren können und erst im Laufe unserer Zusammenarbeit erkennen, dann jedoch umso klarer, was ihnen fehlte: Purpose – Sinn, Bedeutung, Anliegen, Aufgabe –, nenne es, wie du willst. Erst kürzlich sagte mir der CEO eines Fintech-Unternehmens am Ende unserer gemeinsamen Sessions: „Ich wusste am Anfang nicht, wo unser Problem ist und war ziemlich misstrauisch. Jetzt fühlen wir uns täglich, als wäre uns ein riesiger Felsbrocken von den Schultern genommen worden!“ Mit dem Felsbrocken der Sinn-Losigkeit im Nacken klettert es sich eben schwer hinauf auf die Maslowsche Pyramide, auf der wir alle – ob einzelne Menschen, ob riesiges Unternehmen – rauf wollen. Rauf müssen, ganz nach oben: zur Transzendenz. Das ist die innere Geschichte in uns allen, die sich über uns erzählen will, in aller unendlicher Verschiedenheit und dabei in unendlicher Verbundenheit. Wir Menschen sind eben widersprüchliche Wesen.

Diese verwobenen Beziehungen über ein gemeinsames Anliegen, diese Purpose Relations machen uns stark – als Menschen, als Teams und als Gesellschaft. Dafür sind wir da.

Purpose Relations sind die Quelle einer neuen Geschichte, der New Story, die unsere glühend heiße Zivilisation dringend braucht. Es ist eine neue, eine bessere Geschichte für uns alle, die von uns allen handelt und unsere Stärken multipliziert, anstatt, wie die alte Story, uns als Herrscher gerieren, aber uns gleichzeitig als Ungeziefer erscheinen lässt und uns auseinanderdividiert.

Ich glaube, das meinte meine Großmutter, die alte Story Dudette, als sie vor vielen Monden mit ihrem glutroten Lippenstift auf den Spiegel im Waschraum der Chefredaktion des Spiegel schrieb: „New Story. New Glory.“

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