Markus Gull

Die falsche Story von den Ideen, die du hast.

Als einer, der als Geschichten-Erfinder auf den unterschiedlichsten Spielplätzen praktisch seine ganze Berufslaufbahn über von Ideen lebt, höre ich sehr oft mit großem Erstaunen ausgebrachte Sätze wie: „Ich stell mir das total schwer vor, auf Kommando Ideen zu haben!“ oder: „Was dir immer einfällt!“ Und auch immer wieder die Frage: „Wie bekommt man denn am besten Ideen?!?“

Darauf gibt es zwei österreichische Antworten:

1. Kommt drauf an.

2. Hm …


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Also mal zum Kommtdraufan im Sinne von „… kommt drauf an, was man unter Idee versteht“: Häufig sind Ideen ja nicht anderes als Bekanntes, in einer Weise neu zusammengesetzt, wie es bisher noch niemand getan hat. Dafür gibt’s eine Menge erprobter Methoden, so genannte Kreativitätstechniken, die in unterschiedlichen Aufgabenstellungen unterschiedlich gut funktionieren. Handwerk also, oder Hirnwerk plus Herzwerk.

Dabei hilft definitiv, wenn man viel weiß, kennt, sieht, hört, schnüffelt, den Horizont ausweitet. Nicht das immer Gleiche babylonisch auftürmen, sondern das Komplementäre suchen, das Ver-Rückte, das Irritierende. In Unruhe sein, Perspektiven verschieben, aus Prinzip und aus lebensspendender Neugierde. Je mehr Bekanntes man zur Verfügung hat, desto mehr lässt sich nun einmal neu zusammensetzen. So viel verstehe sogar ich von Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung (aber auch nicht gar so viel mehr). Ich glaube, so hat Picasso gearbeitet und Steve Jobs auch. So entsteht dann unter den richtigen Umständen, mit beherztem Arbeitseinsatz und mit einer Prise Glück in allen Feldern, in denen du schöpferisch tätig bist – im Job, als Künstlerin, als Gestalter deiner Lebenswelt –, das, was gute Kunst tun soll: überraschende Anstöße für den nächsten (gedanklichen) Schritt liefern. Dann entsteht also gute Kunst, die das tut, was Ed Ruscha einst beschrieb: „Bad art makes you say ,Wow! Huh?‘ Good art makes you say ,Huh? Wow!‘“

Jetzt aber zum viel Wichtigeren, jetzt also zum Hm …

Hat’s dich?

Wenn jemand sagt, er habe eine Idee gehabt, wenn jemand als Genie gefeiert und eine Person für ihre unglaublichen Einfälle beklatscht wird, dann macht’s in mir: hm … Vor allem dann, wenn es sich bei dieser Person um mich handelt.

Die Storys über „Großartige Menschen, die grandiose Ideen haben“ wackeln an einem Schwachpunkt: sie sind falsch.

Ja!

Es handelt sich dabei bestenfalls um Legenden, vermutlich aber um Märchen, die wir einander seit unendlich vielen Monden erzählen. Sogar wenn Picasso und Steve Jobs darin die Hauptrolle spielen. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass wir Menschen überhaupt keine Ideen haben. Die Ideen haben uns.

Ich erinnere mich an den Sommer 2015. Das Buch fürs Musical „Die Wonderboys“ war in statu nascendi, und das an einem wunderbaren Ort im Süden. Yours truly liegt im Schatten am Pool mit den Wonderboys in den Wehen (Vierlinge, wie man weiß), die Finger fliegen über die Tasten, die Ereignisse überschlagen sich – die Szenen entstehen, Dialoge sprudeln. Hausgeburt, quasi. Allmählich geraten Zeit und Raum und auch sonst alles in Vergessenheit, und während sich der Rosé in Griffweite erwärmt, wird’s dann doch ein bissel kühl auf dem kurzbehosten Gebein, und siehe (oder siehe nicht mehr so viel): rundum ist’s finster. Schließlich realisiere ich, was in den letzten Stunden tatsächlich geschehen ist. Ich habe nicht, wie man meinen möchte, völlig selbstvergessen geschrieben, ich habe mit-geschrieben bei dem, was sich in der besonderen Welt abspielte, an deren Eingangstüre „Phantasie“ zu lesen steht. Ich durfte durch diese Türe eintreten, wurde inspiriert, war be-geistert. Was es nun da auf den Seiten des Musical-Buches zu lesen gab, ist nicht mir eingefallen, es ist in mich eingefallen und wollte durch mich raus, damit es bald über die Bühne gehen und Freude machen konnte. Hat es dann auch, einen ganzen Haufen Freude sogar.

Mehrmals geschah es, dass ich in einem Film, dessen Drehbuch ich verfasste, oder bei der Aufführung eines meiner Stücke dachte, eine Szene oder ein Dialog sei von Regie und Darstellern dazu gebaut worden. Doch beim Nachblättern in meinen Unterlagen sah ich: das habe alles ich geschrieben. Wort für Wort – aufgeschrieben. Erinnern konnte ich mich jedoch nicht daran. Ein Wunder? Ganz und gar nicht! Ich stellte mich bloß als Schriftführer für etwas zur Verfügung, das da war, nur halt nicht für alle lesbar.

Nicht nur mir geht’s so, und mitunter geht’s atemberaubend schnell. Paul McCartney schrieb einen der populärsten Songs aller Zeiten einfach so nach dem Aufstehen. „I have no idea how I wrote that. I just woke up one morning and it was in my head. I didn’t believe it for about two weeks“, erzählte Paul McCartney. Ähnliche Geschichten gibt’s von Kanye West, Adele, Blur, Led Zeppelin, Lady Gaga, den Stones, Elton John & Bernie Taupin … you name it.

Wenn ich einen Text schreibe, dann in aller Regel mit einem ganz klaren Bild davon im Kopf, worum es dabei geht und wohin. Am Ende steht häufig etwas ganz anderes da, und ich hab’ nicht die geringste Ahnung, wieso. Meistens ist es deutlich besser, als mein Plan war. – Also ehrlich gesagt habe ich natürlich schon eine gesicherte Ahnung, wieso. Siehe oben …

Manchmal sitze ich an meinem Schreibplatz und tüftle über eine Sache – ein kraftvolles Konzept, eine wirkungsstarke Strategie, ein inspirierender Workshop-Ablauf, eine bewegende Keynote-Dramaturgie, eine knackige Formulierung – und wie aus heiterem Himmel knallte es urplötzlich aus mir raus. Die Wahrheit ist: aus heiterem Himmel knallte es in mich hinein, ein Ein-Fall.

Und wie vielen anderen geht’s auch mir mitunter so, dass ich irgendwo etwas großartiges Neues sehe und mich daran erinnere, dass ich dieselbe Idee auch schon einmal hatte. Irrtum! Ich hatte sie eben nicht. Die Idee hatte mich, und sie hatte es eilig. Weil ich ihr nicht in unsere Welt half, suchte sie sich einen anderen Gehilfen, der ihr beim Gehen hilft.

Da hast du’s!

Zum Beispiel kam mir so um das Jahr 2001 herum die Idee zum iPhone. Als ich – Gründungsmitglied der digitalen Bohéme und Evangelist des mobilen Arbeitens seit Urzeiten – selbstverständlich einen PDA (Personal Digital Assistant) namens Palm Pilot bekam, wusste ich, was ich unbedingt will: Das alles muss ins Handy und der iPod noch dazu. Die Idee verstand natürlich in der Sekunde, dass das mit uns beiden definitiv nix wird, hatte es verdammt eilig und war auch schon unterwegs nach Cupertino. Dort machte ihr Steve Jobs die Räuberleiter, 2007 kraxelte sie in unser Leben. Die Idee zum iPhone hatte mich damals kurz, heute hab’ ich ein iPhone, und ich denke, so ist’s am besten für uns alle ausgegangen.

Wenn dich allerdings die richtige Idee als den richtigen Menschen ausgesucht hat, dann kommt Bewegung ins Geschehen. Dann gehst du ganz in deiner Arbeit auf – bist im Flow, wie das der wunderbare Mihály Csikszentmihályi bezeichnete. Du gehst in deiner Arbeit auf, öffnest dich, erblühst zu deiner ganzen prächtigen Fülle. Du nimmst deine Aufgabe an und erfüllst sie. Als erlebbares Dankeschön erfüllt sie im Gegenzug dich. Aufgaben-Erfüllung für einen höheren Zweck, der weit über deinem Ego glänzt. Darauf wächst du zu.

Der höhere Zweck mag ein Unterhaltungsmusical sein, das Freude macht und dem Publikum ein paar Impulse zum Nachdenken rüberschubst, zum Nachdenken übers eigene Ego, das einem zwischen den Füßen herumrennt, über das, was man meist ohne viel Nachdenken Selbst-Verwirklichung nennt, über das Verstehen, was einem wichtig ist und was man deshalb dafür tut oder eben nicht.

Der höhere Zweck mag ein vorschriftsmäßig bereiteter Risotto sein, also mit Liebe und Hinwendung, der deshalb Leib und Seele nährt. Oder eine notwendige Unternehmensgründung, das Engagement im Elternverein oder bei Fridays for Future, oder sonst eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Sie klopft bei irgend jemandem an und hofft, Obdach zu finden für die Zeit ihrer Niederkunft.

Der höhere Zweck ist nicht höher als alles andere, gewichtiger, bedeutender, spektakulärer. Er ist höher als wir, als du und ich und unser Eigennutz. Der höhere Zweck will aus unserem gemütlichen Elfenbeintürmlein raus in die Welt, rein in seinen Wirkungsraum. Das Auslassventil für diesen Zweck sitzt ganz oben auf unserer Bedürfnispyramide, die uns Abraham Maslow aufgezeichnet hat, und zwar im Modell von 1970, in dem er über der Selbstverwirklichung der Transzendenz ein Stübchen eingerichtet hat. Dort oben wachsen wir über uns hinaus, tragen etwas bei, was über uns selbst hinausgeht. Das ist uns Menschen wesentlich, ein lebenswichtiges Bedürfnis. Genau deshalb sitzt es ja ganz oben auf der Bedürfnispyramide und nicht im Shopping Cart bei Zalando. Etwas mehr dazu habe ich hier aufgeschrieben.

Mehr noch als das ist Transformation zum positiven Wachstum die Aufgabe schlechthin von uns Menschenwesen auf Erden. Wir sind die Transporteure, Brücken und Dolmetsche für Ideen, die aus ihrer Welt in die unsere wollen; in unsere Welt drängen, rein müssen, weil sie hier etwas zu erledigen haben. Das kann keine andere Spezies außer uns tun. Dafür – auch dafür – sind wir da.

Was haben wir?

Allerdings gibt es nicht nur gute Ideen, schließlich gibt es auch nicht nur gute Menschen. Nur, was ist denn das, ein guter Mensch? Was ist denn das, eine gute Idee? Die Antwort darauf liegt meist in der Perspektive und im Kontext begründet und darin, was man schließlich aus der Idee macht. Die Antwort lautet also wieder mal: „Kommt drauf an …“

Und schon stecken wir mittendrin im dicksten prächtigen Dilemma, also dort, wo wir mit unseren Entscheidungen zeigen können, wer wir wirklich sind. Da reicht nicht mehr, was wir uns selbst und anderen erzählen, wer wir sein wollen. Im Dilemma geht’s um Tat und Wahrheit. Wie wir „between a rock and a hard place“ konkret entscheiden. Ob und wie wir daraufhin konkret handeln. Eingeklemmt in der Zwickmühle zwischen zwei positiven Ideen oder zwischen zwei üblen als einzige Auswege. Dort sitzen der Teufel und die Götter, unser Dämon und unser Daimon, Schulter an Schulter und schauen uns fragend an. Meist zwinkert uns der Dämon verführerisch zu, wie es seinem besonderen dämonischen Geschick entspricht. Denn wie wir wissen, ist das Teuflische am Teufel, dass er uns glauben macht, es gäbe ihn nicht.

Welcher Idee helfen wir in die Welt? Damit zeigen wir, wer wir sind. Welche Idee unterstützen wir, weil wir sie für richtig, für gut oder für richtig gut halten? Etwa sogar eine, die unseren Werten entspricht, obwohl sie uns nicht nützt oder gar schadet? Damit errichten wir unserer inneren Story eine tragende Säule, um die wir den Palast unserer Wahrheit errichten.

Hm …

Wenn wir hier und heute aus dem Fenster schauen, oder in eine Zeitung, oder online oder sonstwohin, was man mit draußen meinen könnte, dann sehen wir eines: die Welt braucht positive Ideen und Menschen, die ihnen bereitwillig Brücken bauen. Die Welt braucht eine ganz neu Geschichte, die nicht bei der Selbstverwirklichung enden darf, dort, wo man sich selbst zum Helden macht. Wir müssen eine Stufe weiter klettern, dorthin, wo wir einander zu Mentoren werden, wo wir einander stark machen im Komplementären. Weil so das Ganze entsteht. Und zack, hat mich schon wieder eine Idee: lasst uns KompleMENTORen werden. Das wär’ doch was! Hm …?

Ein paar zusätzliche Gedanken zu Mentoren findest du hier und hier und hier.

KompleMENTORen – das sind Bestärker, nicht Besieger. Das sind die Hauptdarsteller in einer neuen Geschichte, bei denen Kollaboration und nicht mehr wie in der alten Story Dominanz das Zusammenleben bestimmt. Das sind die, die der Dalai Lama meinte, als er sagte: „Der Planet braucht keine erfolgreichen Menschen mehr. Der Planet braucht dringend Friedensstifter, Heiler, Erneuerer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Art.“ Gute Idee, oder?

Hiermit bist du offiziell zum Mitmachen eingeladen. Das Vereinslokal der KompleMENTORen befindet sich in der achten Etage von Maslows Bedürfnispyramide. Dort gibt’s übrigens gratis Highspeed-Internet für alle sowie frischen Apfelstrudel und immer Live-Rock’n’Roll rund um die Uhr.

Du kommst doch vorbei, oder? Eine ist definitiv schon dort, nämlich meine Großmutter, die alte Story Dudette. Sie hilft grad ein paar Ideen aufs Trampolin für den gekonnten Salto in unsere Welt. Es sieht aus wie ihr pralles Notizbuch, auf dessen Deckblatt zu lesen steht: „New Story. New Glory.“

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