Markus Gull

Warum du mir bloß nicht recht geben sollst?

Der Umstand, dass wir uns selbst und einander mit Geschichten die Welt erklären, bedeutet noch lange nicht, dass diese Geschichten auch für alle in derselben Realität wurzeln. Vor allem dann nicht, wenn es um die Mini-Geschichten geht, die wir uns selbst servieren und – über Generationen aufgewärmt – weiter auftischen, unsere Glaubenssätze, die wir häufig unreflektiert für bare Münze nehmen.


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Eine meiner Lieblingsgeschichten aus dieser Sammlung ist jene, die von der Suche nach der Wahrheit handelt. Das wollen wir doch alle: die Wahrheit finden, erkennen, verbreiten und so weiter.

Mir scheint allerdings, die Wahrheit hinter der Geschichte über die Wahrheit ist, dass wir in Wahrheit gar nicht an der Wahrheit interessiert sind, sondern am Rechthaben, nicht wahr? Als fruchtbar-fetten Feldforschungsacker zu dieser Theorie empfehle ich einmal mehr die Speiberei in den Kommentarfeeds der Online-Nachrichtenportale und in sozialen Medien, unter besonderer Berücksichtigung von Twitter, für den Fall, dass dir vor nichts graust. Oder noch einfacher: Erinnere dich an die öffentlichen Debatten rund um Corona. Da wussten alle alles, obwohl sich niemand auskannte.

Ganz ehrlich: Wie viel von dem, was wir heute als Fakten bezeichnen und also wissen, wussten wir früher auch schon, nur halt faktisch ganz anders? Eine ganze Menge! Ruf mich doch bitte in 250 Jahren einmal an, damit wir uns ansehen, was wir dann über das, was wir heute wissen, wissen werden und wer recht hatte. Wer weiß schon etwas?

Der famose Drehbuchautor und mehrfache Oscar®-Preisträger Sokrates sagte bekanntlich über die Regeln für das, was in Hollywood Erfolg haben wird: „Ich weiß, dass ich nichts weiß”, und paraphrasierte damit den Satz des alten griechischen Philosophen William Goldman: „Nobody knows anything.” – Oder war Sokrates der Philosoph und Goldman der Autor? Was weiß denn ich …

Gibt’s denn überhaupt was Schöneres als recht zu haben? Möglicherweise, nämlich: nachträglich also doch recht gehabt zu haben, weil man’s „ja gleich gesagt hätte, aber …” Herrlich, oder?

Was mich an der Rechthaberei am meisten irritiert, ist die grassierende Seuche des Rechtgebens. Du unterhältst dich mit jemandem über dies und das, stellst eine These auf, erzählst von einer Beobachtung, äußerst eine Meinung, bietest eine neue Perspektive an und bekommst geechot: „Da geb ich dir recht!” bzw. „Da geb ich dir nicht recht!”

Wie geht denn das?

Ich meine, auf eines können wir uns doch leicht einigen: Man kann nur geben, was man hat. Wenn dir also jemand recht gibt, heißt das, dass er recht hat, einmal so ganz prinzipiell recht hat, unhinterfragt – und somit also recht geben kann, oder eben nicht. Recht sprechen kann, zu Recht erkennen.

Recht geben ist also wie recht haben, nur perfider. Weil die Rechthaberer sich damit über andere erhöhen, ihre Meinung, Ansicht, Erkenntnis und in einem gleich sich selbst über andere stellen: „Ich hab recht, und du eichst deinen Beitrag an meinem Urmeter.” Die ultimative Anmaßung! (Und ich rede hier nicht von Fakten, wohlgemerkt, aber, hm … Fakten: naja, siehe oben …)

Über unsere Sprache vermitteln wir mehr über uns, als es uns bewusst ist. Der Subtext schwingt immer mit – unbewusst gesendet, unterbewusst empfangen. Über den Subtext enthüllt sich der Charakter. Subtext ist das Einzige, was Schauspieler bei Dialogen spielen können. Ansonsten würden sie ja nur Text aufsagen, also Infos weitergeben. Hör dir einmal bewusst die Grandios-Dialoge in Filmen aus der Feder von Aaron Sorkin an, dann erkennst du im Nu, was Subtext macht. Zwischen den Zeilen sagen wir oft mehr als in den Wörtern.

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Recht haben und recht geben sind Bestandteile jener alten Story, die wir uns nun schon wirklich allzu lange erzählen. Diese alte Geschichte geht so: Gut kämpft gegen Böse, Recht kämpft gegen Unrecht – die Guten müssen gewinnen, und das Recht muss obsiegen. Und nur damit das klar ist: Wir sind die Guten und damit die rechtmäßigen Sieganwärter!

Dass das Gute gewinnt, dagegen gibt’s im Grunde nichts zu sagen. Nur: Was ist denn das, das Gute, und wer gewinnt, wenn es mehr als ein Gutes gibt? Freiheit oder Sicherheit? Schnelligkeit oder Beständigkeit? Vertrauen oder Kontrolle?

Sind hundert Prozent von etwas Gutem das Beste? – Hundert Prozent Freiheit, also zum Beispiel keine Verkehrsregeln mehr, ist das ideal? Geht’s denn etwa gar nicht ums Entweder-oder, sondern um Balance?

Ja, diese alte Geschichte der Dualität, des Manichäismus, wie wir alten Perser gerne sagen, die hat einen massiven Konstruktionsfehler. Denn konsequent zu Ende gedacht führt sie zu einem Jeder-gegen-jeden, weil alle Geschichten, die wir uns erzählen, stets von der eigenen Perspektive geprägt sind. Marc Aurel, einer der allseits beliebten Stoiker-Leithammel, brachte es auf den Punkt: „Alles, was wir hören, ist eine Meinung, keine Tatsache. Alles, was wir sehen, ist eine Perspektive, nicht die Wahrheit.“ Wenn wir das verstehen, dann bereichern wir unsere Gespräche jedenfalls ums Komplementäre.

Wir brauchen also dringend eine neue Geschichte, eine bessere als diese alte ausgelatschte, eine New Story. Borgen wir uns dafür doch einen klugen Gedanken von Hannah Arendt aus: „Wahrheit gibt es nur zu zweien.” Für unsere eigene Wahrheit braucht es immer auch die Stimme des Anderen, sonst wird sogar aus unseren Selbstgesprächen allzu schnell bornierter Quatsch.

So eine mögliche Wahrheit beginnt jedenfalls mit einer aus der Mode gekommenen Kulturtechnik, die es verdient, reanimiert zu werden: Zuhören. Und zwar, zuhören, um zu verstehen und nicht, um zu antworten, nicht um recht zu geben oder zu haben.

Verstanden heißt nicht einverstanden, aber „alles verstehen heißt alles verzeihen”, sagte uns Madame Germaine de Staël, womit zuerst einmal das Entlassen aus einer Schuld gemeint sein könnte, was wiederum nicht relativieren oder gutheißen bedeutet. Verstehen und verzeihen heißt, sich auf gleicher Augen- und Herzenshöhe einzupendeln. Und das wäre doch bereits ein wunderbarer Anfang für eine neue Story, eine, die nicht mit „Es war einmal …” beginnt, sondern mit „Es wird einmal.” Diese Geschichte lässt uns in die bestmögliche Richtung wachsen, nämlich über uns hinaus, hinein in die Wahrhaftigkeit.

Man muss sich nicht immer auf eine Seite schlagen und dieser recht geben. Man kann auch zustimmen oder nicht. Man muss nicht bewerten, um einzuordnen, man muss sich nicht übers Rechtgeben oder Rechthaben definieren. Denn recht hat, wenn schon, sowieso meistens meine Großmutter, die alte Story Dudette, vor allem mit ihren weisen Worten, mit denen sie Hannah Arendt stets zum Kaffeeplausch begrüßte: „New Story. New Glory.”

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