Markus Gull

Eine neue Story jenseits von gut & böse.

Seit einigen Tagen wütet Krieg in der Ukraine, in Europa brennt die Tapete. Aber wie!

Ich sitze an meinem geplanten Blogartikel und schreibe über die Leichtigkeit. Wirklich? Also nächstes Thema aus der Liste: Ästhetik. Auch das geht sich nicht aus.

Worüber schreibt man in diesen Tagen in seinem Blog, worüber schreibe ich? Soll ich überhaupt?


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Im Blogcast lese ich Dir diesen aktuellen Blogartikel vor. Mit Betonung, versteht sich!

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Was machen wir in unseren Social Media Channels, fragen wir uns im Team. Was teilen wir in und mit unserer Community? Nun ja, alles in allem gilt es weiterhin, seine Arbeit zu tun. Dennoch: so tun als wäre nichts gilt aber auch nicht. So viel steht fest.

Fest steht auch, dass mein Kommentar zur weltpolitischen Lage und die damit verbundene Analyse mindestens so verzichtbar wäre wie es die Beiträge vieler anderer bereits sind. Sogar jene von klügeren Lebewesen als ich eines bin. Denn dass die russische Armee auf Befehl Wladimir Putins in die Ukraine einmarschierte, sieht ja jeder, und jeder findet das entsetzlich, verwerflich, übelst und durch nichts zu rechtfertigen. Jeder minus die Regimes in China, Indien, Iran, Syrien, Venezuela, Myanmar und Donald Trump halt, die sich eine andere Geschichte darüber erzählen, von deren Wahrheit sie zutiefst überzeugt sind. Genauso wie sie davon überzeugt sind, dass Russlands Machthaber richtig handeln, gerechtfertigt allemal.

Wer ist also tatsächlich gut, wer böse? Was ist wahr?

Aus unserer westeuropäischen Perspektive besteht daran kein Zweifel, und ich bin zutiefst davon überzeugt, es existiert überhaupt keine Perspektive, aus der man Krieg gut finden kann. Diese Perspektive darf nicht existieren. Wer das immer noch nicht verstanden hat, wird es nie verstehen, fürchte ich. Helfen, unterstützen, Leben retten, in Sicherheit bringen – das ist das Gebot jeder und dieser Stunde.

Und: Fragen stellen. Wie immer Fragen stellen, zumal im Dickicht der Antworten.

Was ist morgen?

Was uns in diesen Tagen in bedrohlicher Gewissheit um die Ohren fliegt, ist die Tatsache, dass uns die Geschichte „Gut gegen Böse, und das Gute muss am Ende gewinnen, denn nur das ist ein Happy End“ als Senkblei, an dem wir unser Handeln seit Menschengedenken ausloten, unausweichlich ins Verderben stürzt. Und das, obwohl sie uns Menschen, seit wir uns Geschichten erzählen, führt, lenkt, antreibt, umtreibt, seit ihr Kern als Hefe alle weiteren Geschichten unserer Spezies aufgehen lässt.

Die Geschichte „Gut gegen Böse“ hat alles, was gute, also bewegende Geschichten brauchen: Helden, Werte, Ziele, Konflikte, Gefahren, Spannung – und Gegner. Je übermächtiger, je gewaltiger die Gegner, desto legendärer die Heldentaten in der Verteidigungsschlacht zum Schutze der Werte, unter dem Banner des Guten. Je breiter die Schlucht, je tiefer der Abgrund, desto beherzter der Sprung und desto lauter der Jubelschrei nach geglückter Landung am rettenden Rand.

Und genau das ist das Problem.

Deshalb taugt diese Geschichte nicht mehr, so wirkungsvoll – oder so effektiv – sie auch über Jahrtausende gewesen sein mag, so viele positive Entwicklungsschübe sie auch ermöglichte. Die Geschichte „Gut gegen Böse, und das Gute muss gewinnen“ ist falsch. Sie wird uns als Menschheit auslöschen. Kann sein sogar noch vor der Klimakatastrophe, noch bevor uns die Künstliche Intelligenz völlig aus dem Ruder läuft und Johann Wolfgang von Goethes analoge Worte so oder so wahr werden:

„Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
werd ich nun nicht los.
“
Willkommen im Anthropozän!

Was sind Werte wert?

Wenn wir uns selbst und einander die Geschichte von Gut gegen Böse erzählen, dann fallen schnell Begriffe wie „Werte haben“, oder „Haltung zeigen“, oder „für seine Ideale kämpfen“, mit denen wir uns selbst in innerlichen Standing Ovations bewundernd berauschen.

„Es geht um unsere Werte!“ Kaum ein Tag zieht ins Land, an dem ich nicht auf diesen Satz stoße, wobei in aller Regel sogar auch noch Werte mit Tugenden – und dann auch noch mit elastischen Stufen auf der Saugtreppe zum Erfolg – verwechselt werden, und damit kaum mehr Bedeutung haben als Meinungen. Wenn schon, dann wertgerichtete Ziele, nicht zielgetriebene Werte.

Grundwerte, Markenwerte, Werte unserer Gesellschaft, Werte, die es somit zu verteidigen gilt, denen wir unverbrüchlich verpflichtet sind – Werte, Werte, Werte. Werte empfinden wir durchaus zu recht als etwas Positives, deshalb halten wir unsere Werte hoch. (Nur die Leber-Werte nicht, wenn’s geht.)

Werte sind wertvoll. Das stimmt. Aber es ist dennoch völlig falsch. Denn Werte sind vor allem eines: wert-neutral.

Liebe Leute, ich weiß, ein Mann, der die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd, und ich hab’ aktuell nicht einmal genug Luft im vorderen Fahrradreifen. Dennoch: „Werte haben“, „Haltung zeigen“ und „für seine Ideale kämpfen“, wie das geht, das macht uns Wladimir Putin derzeit vor, das macht seine Armee gerade. Nichts anderes. Das hat Donald Trump getan, unter dem Schlachtruf „Make America great again!“ wurde das Kapitol in Washington gestürmt, das tat Hitler mit seinem Verbrecherpack, das taten die Alliierten beim Einmarsch in der Normandie, so wurden die Golfkriege motiviert und alles, was im ehemaligen Jugoslawien geschah. Das gilt für die Christen und ihre Verfolger gleichermaßen, das gilt für Kreuzritter und die Flying Doctors. Sie hatten und haben eine für sie perfekte Story: eben ein eindeutiges Werteprofil, dem sie sich verpflichten, eine Vision, eine Mission, einen Feind von außen … Abscheulich oder erfreulich? Jedenfalls wahr für die Helden in ihrer eigenen Geschichte.

Die Guten gegen die herrschende Macht der Elite: „Wir sind die Vielen, die moralisch Überlegenen, die von einer mächtigen elitären Minderheit beherrscht werden“ – das ist die Story-Mechanik der Nazis, das ist genauso die Story-Mechanik der Christen von vor 2.000 Jahren, das treibt, führt und lenkt Fridays for Future. Mit dieser Geschichte kannst du wie Donald Trump „America First!“ fordern, oder wie Apple 1984 den Macintosh am Markt einführen: eine kleine Gruppe Gerechter, die für die Befreiung aus der Knechtschaft des alles dominierenden Big Brother IBM kämpft.

Gut oder böse? Einer, der sich mit Krieg, Not und Elend weißgott auskannte, war Marcus Aurelius. Und er kannte sich auch mit der hohen und seltenen Kunst der Selbstbetrachtungen aus, in denen er erkannte: „Alles, was wir hören, ist eine Meinung, keine Tatsache. Alles, was wir sehen, ist eine Perspektive, nicht die Wahrheit.“

Story kennt eben kein neutrales Gut und Böse, sondern nur Perspektive. Das macht Geschichten seit immer so effektiv für die Identitätsstiftung, als Führungsinstrument, zur Motivation, Begeisterung. Eine gemeinsame Story vereint und stärkt. In jede Richtung. Viele Nationen wurden auf dieser Geschichte gegründet, viele damit zerstört.

„Unsere scheinbar kohärente Geschichte“, so Yuval Noah Harari in seinem Buch „Homo Deus“ sagt uns „… wer ich bin, woher ich komme und wohin ich gehe. Diese Geschichte sagt mir, was ich lieben, wen ich hassen und was ich mit mir selbst anfangen soll. Diese Geschichte kann sogar zur Folge haben, dass ich mein Leben hingebe, wenn die Handlung es erfordert“. Ein Narrativ funktioniert als Mechanik wie ein Hammer: Wer ihn führt, bestimmt, ob er als Werkzeug oder als Waffe wirkt. Mit Panzern und Bomben wird angegriffen oder befreit.

Bist du böse?

Kein Mensch steht morgens auf und beschließt, ein schlechter Mensch zu sein. Nicht einmal die übelsten Verbrecher. Und das trotz einem Herz voll Hass, Missgunst, Liebe, Eifersucht, Habgier, Neid, Verrat … Kein Elternmörder, kein Großbetrüger, kein diktatorischer Schreckensherrscher – nicht einmal Hitler hatte den Gedanken, er sei im Unrecht, Wladimir Putin schon gar nicht. Sie alle sind sogar fest davon überzeugt, sie verfolgen eine hehre Mission, erfüllen ihre Pflicht, tun jedenfalls, was nun einmal getan werden muss. Auch wenn’s Opfer verlangt.

Schau dir den nächstbesten Thriller an. Irgendwann im 3. Akt ist es so weit: der Böse offenbart sich und seine Motive. Niemals als Böser, immer als Guter in seiner eigenen Geschichte, als Rächer, Getriebener, Gezwungener, als Opfer der Umstände.

Das Leben ist eine einzige Zwickmühle im endlosen, gnadenlosen Dauerbetrieb, und wir müssen eine Entscheidung nach der anderen treffen, im Dilemma, eingeklemmt „between a rock and a hard place“. Dazu habe ich mir einen Satz von Roy E. Disney gemerkt: „It’s not hard to make decisions once you know what your values are.“ Dieser Gedanke ist gut, er ist schön, er dient uns als Handlauf an unserer inneren Wendeltreppe. Doch sobald das Dogma aufblitzt, schrillen die Alarmglocken. Achtung: Irrweg in den Abgrund!

„Gut gegen Böse, und das Gute muss gewinnen“ – die Guten sind in dieser Geschichte immer wir, die Bösen sind die Anderen. Das Andere ist alles, was uns am Weg zum Gewinnen im Weg steht, folglich bekämpft, beherrscht, bezwungen und besiegt werden muss. Überwunden und dominiert, von uns, den Guten. Was wir dafür brauchen, das darf benutzt, ausgebeutet und verputzt werden, Zwecke heiligen die Mittel. Alles dient als Ressource für unseren Gewinn, weil damit wir – also die Guten – gewinnen.

Die alte Geschichte „Gut gegen Böse, und das Gute muss gewinnen“ hat allerdings einen systemischen Fehler, der sich sowas von gewaschen hat: Die Guten sind in unserer Geschichte zwar wir, in der Geschichte der Anderen sind wir allerdings nicht wir, sondern die Anderen, also die Bösen, und damit bedeutet das älteste Narrativ der Menschheit in Tat und Wahrheit: Jeder gegen jeden. Die alte Geschichte „Gut gegen Böse und das Gute muss gewinnen“ hat ausgedient. Das Buch des Manichäismus als Betriebsanleitung für unser Zusammenleben in polarisierendem Gegeneinander muss geschlossen werden. Hier, jetzt und überall für immer.

Die Geschichte von Gut gegen Böse kennt nur eine Perspektive: die eigene. Deshalb ist sie im Einzelfall richtig, jedoch als treibende Erzählung für eine Gesellschaft, für Nationen, für die Menschheit insgesamt ist sie destruktiv und falsch. Sie muss ins Verderben führen, weil sie immer einen Gegner braucht. Und wenn der besiegt ist, brauchen wir den nächsten, weil ein Gegner Angst macht und, so wusste Hans Fallada: „So sind die Menschen: Eine gemeinsame Furcht führt sie leichter zusammen als eine gemeinsame Liebe.“

Was nun, kleiner Mann?, frage ich mich und dich und uns.

Willkommen im Humanozän.

Ganz einfach: Wir müssen verstehen, warum wir Menschen auf der Welt sind. Was das ist, was wir und nur wir können: erschaffen, heilen, gestalten – für andere. Wir können das nicht nur, wir müssen das tun, damit wir an Seele und Leib gesund bleiben.

Wir müssen miteinander reden. Wir müssen einander zuhören. Unbedingt und vor allem auch den Anderen, unseren ja: Gegnern, mögen sie auch noch so übel sein, verwerflich, brutal, respektlos, oligarchisch. Wir müssen sie nicht gut finden, brauchen ihre Werte nicht zu teilen, können sie sogar ablehnen, doch wir müssen sie verstehen, sorry, ist so. Lieber früher als später. Was denn sonst? Sollen die Klitschko-Brüder Putin hinterm Kreml auflauern und verdreschen? Soll’s im Nahen Osten ewig so weitergehen und in Syrien und wo sonst noch überall Menschen aufeinander losgehen? Wie lange wird das laufen? Bis alle tot sind?

Wie lange wird es dauern, bis Flüchtlinge aus der Ukraine gegen jene seit 2015 ausgespielt und aufgerechnet werden, Corona-Hilfen gegen Aufrüstungsausgaben und unterm Strich dann alles zusammen gegen Investitionen in eine – sorry fürs Buzzword – nachhaltige Wirtschaft? Genau genommen passiert das bereits.

Wir müssen einander zuhören und einander verstehen. Man muss die Positionen der so genannten Anderen nicht teilen, man darf sie sogar falsch finden, aber man muss sie verstehen. Erst dann wird ein Zusammenleben ohne Kriege möglich sein. Nur so werden wir himmelschreiende Katastrophen wie den Hunger auf der Welt tatsächlich beseitigen und die Klimakatastrophe möglichst klein halten können.

Das sind die Gegner der Menschheit: Hunger, Armut, Ungerechtigkeit, Hass, Krieg. Dagegen sollten wir uns in gemeinsamer Furcht verbinden.

Vermisstenanzeige: AnführerInnen dringend gesucht!

Für diesen – meinetwegen – Kampf brauchen wir dringend und strukturell Menschen in Führungspositionen, die als Vorbilder taugen, die als moralische Instanzen wirken. Kurz gesagt: das Gegenteil der derzeit nahezu überall amtierenden selbsterfinderischen Ego-Akrobaten. Vielleicht können die Umbrüche seit 2020 unseren Verstand doch so weit schärfen, dass sich eine kritische Masse diese Bezeichnung im Wortsinn verdient hat, dass dann alle Führungsdarsteller entlarvt sind, die mit Politikern verwechselten Halawachln, die Schlaucherln, die Maulhelden, die Berufsschwänzer, die Hutschenschleuderer, die Ichlinge, die Karaoke-Dirigenten und Furchengänger; dass die dann endlich kritische Masse ihnen Amt & Würden entzieht, Würden sowieso, nachdem sie uns die Würde längst entzogen haben. Dass aus dieser kritischen Masse – so lässt mich die Sehnsucht hoffen – AnführerInnen hervorbringt, die mit ihren Aufgaben wachsen, an ihren Aufgaben über sich hinauswachsen, über ihren Schatten springen und dort landen, wo erfolgreiche Politik mehr bedeutet als eine gewonnene Wahl und diese eine gebildete Regierung, weil eben ohne eine andere Wahl. Was hätte man denn auch tun sollen, bitteschön?

Was man von Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj so sieht, ähnelt einer Hoffnungskerze im Fenster zur finsteren Welt.

Vielleicht werden dann diese neuen Anführerinnen und Anführer die alten Zöpfe abschneiden und endlich, endlich bitte aus ihrer Haut herauskönnen, sie abstreifen, die alte Haut, die ja längst schon zu eng ist, überall spannt, nicht nur um die Hüften, und juckt, so fest du sie auch eincremst, ihren Ruf hören, ihn annehmen, über sich hinauswachsen und damit in sich hinein.

Vielleicht werden es die sein, ausgerechnet die, die ihren eigenen Maßstäben gerecht werden und alles dafür tun, koste es, was es wolle, dass selbständige Menschen in einer starken Gemeinschaft in ihre grenzenlose Entfaltung kommen, weil sie kaum, dass sie gehen und sprechen können, auch die wundersame, heilsame Zauberkraft des Fragezeichens kennenlernen. Selbständige Menschen eben genau deshalb, weil sie wissen und verstehen, dass man fragt, was man fragt, wie man fragt und vor allem: warum man fragt.

Vielleicht werden wir dann eine Generation von geborenen Anführern in unserer Mitte haben, Menschen, die mit ruhiger Hand, kühlem Kopf und heißem Herz führen, jedenfalls einmal ihr Leben selbst führen und deshalb nicht verführbar sind.

Vielleicht geben einmal, dann einmal, ganz schnell einmal, einmal wenigstens nicht die Gescheiteren nach und den Dümmeren das Ruder in die Hand, sondern es explodiert die brennende Sehnsucht in ein Feuerwerk möglicher Wirklichkeit, in der Unternehmenslenker nicht jede Chance im Handumdrehen durch Vergolden vergeuden, nicht schwuppdiwupp abgarnieren längemalbreite, abgreifen, was es da noch zu holen gibt, sogar im Taschl der Strauchelnden, weil eben nichts so schön wuchtig rollt wie der Rubel aufs eigene Konto.

Vielleicht werden wir dann ausreichend viele von denen am Steuer haben, die zwischen den Zeilen ihrer Job Description eine noble Aufgabe herauslesen, sich dieser ihrer Aufgabe zur Verfügung stellen und sie erfüllen, weil sie darin Erfüllung sehen und nicht zuerst im gefüllten Geldspeicher. Solche Kaliber, die wären doch was, wofür sich jede Katharsis gelohnt haben könnte!

In der Bildung, in der Wirtschaft, in der Politik, vor allem in der so genannten Zivilgesellschaft braucht’s solche Anführer in eine neue Zeit, mit einer neuen Geschichte, die von Verbundenheit erzählt. Wir brauchen Menschen, die antagonistische Kooperationen bewerkstelligen, sich nicht auf eine Seite ziehen lassen, weil das halt einfach ist und schnell, effektiv erklärbar: Gut gegen Böse, und wir sind die Guten. Nur: die Welt ist nicht einfach, das Leben ist komplex. Wenn wir das nicht verstehen, dann müssen wir alles glauben, und dann wird’s kompliziert.

Sollten wir uns also nicht selbst mehr zumuten, dafür einander weniger? Es uns selbst weniger leicht machen, dafür einander nicht schwer?

Sollten wir uns nicht selbst öfter die Frage stellen, die Barack Obama bis zuletzt immer wieder seinem Team gestellt hat: „What, if we are wrong?“

Zeit zum Aufbruch.

Eine Stimme, die mir – und wie ich meine: uns allen – fehlt, ist die von Roger Willemsen, dessen Zeit auf Erden nicht für sein letztes Buch ausreichte. „Wer wir waren“ sollte es heißen und unsere Gegenwart aus der Zukunft betrachten. Er ließ uns etwas da von seinem letzten öffentlichen Auftritt, bei dem er in einer Zukunftsrede Gedanken für sein ungeschriebenes Buch zusammenfasste. „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten“, sagte Roger Willemsen dort. Mittlerweile wurde dem nachdenklichen schmalen, kraftstrotzenden und breitschultrig kraftgebenden Willemsen-Büchlein eine Filmdoku und dazu wieder ein begleitendes Buch nachproduziert, allesamt Anstöße zum eigenen Nachdenken über uns selbst, für Selbstbetrachtungen. Anstöße zum beherzten Handeln und zum Umdenken, allem voran. Es ist allerhöchste Zeit zum Aufbruch.

Ich weiß, der Platz in der Komfortzone ist uns, wenn schon nicht sicher, doch wenigstens bekannt. Die Komfortzone – unser kleines Königreich, das wir beherrschen, wir, die Guten. Hier können wir es uns bequem und leicht machen. Da lassen wir alles laufen, da lassen wir uns gehen und reden uns ein, wir würden uns dadurch selbst verwirklichen und unseren Werten zum Durchbruch verhelfen. Wirklich?

Unsere Werte sind die Vokabeln unserer inneren Geschichte. Mit ihnen beschreiben wir das, was uns wichtig ist, worauf es uns ankommt, wofür wir stehen. Sobald wir wissen, wer wir sind, wird alles andere plötzlich leicht. Dann gehen wir in unserem inneren Hafen, dem einzigen sicheren, vor Anker, in jenem Hafen, in dem unser Leuchtturm steht. Dann haben wir nichts mehr zu verlieren, dann haben wir nichts mehr zu gewinnen, aber wir hätten plötzlich eine Menge zu teilen.

Der stets höchst zu verehrende Viktor E. Frankl sagte uns einst: „Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.“ Dieser Raum ist einfach zu finden. Er liegt jenseits von gut und böse und jenseits der Komfortzone.

Lasst uns diesen Raum betreten. Dort können wir einander begegnen, einander zuhören, erkennen, was uns wichtig ist – dir, mir, ihr, ihm –, unsere Geschichten teilen, einander verstehen. Und was miteinander machen, etwas miteinander anfangen, vielleicht sogar füreinander, in allen Gegensätzen. Der Schlüssel zu diesem Raum ist, dass wir endlich aufhören, uns und einander die alte Geschichte zu erzählen, in der es um „Gut gegen Böse“ und um „Wir gegen die Anderen“ geht, die verlangt, dass wir uns immer auf eine Seite schlagen und gegen das Andere sein müssen, damit wir fürs Eine sein können. Ist das so?
Wenn ich die Oper verehre, muss ich Jazz verachten?
Wenn ich Sonnenblumen liebe, muss ich Tulpen hassen?
Wenn mich Pizza erfreut, muss mich Pasta anekeln?

Oft hört man, die Welt sei nicht nur schwarz oder weiß, sondern dass es dazwischen auch viele Grauschattierungen gibt. Ich denke, das ist viel zu finster gedacht, denn zwischen Schwarz und Weiß befinden sich sämtliche Farben des Spektrums in all ihrer Vielfalt, in all ihrer Harmonie, in all ihren Kontrasten, in der Fülle des Komplementären. Das sind die Farben, mit denen wir uns dringend unsere neue Geschichte, die neue Geschichte der Menschheit ausmalen müssen, wenn wir wollen, dass sie stattfindet.

Diese neue Geschichte erzählt vom Gleichklang in Verbundenheit von Gegensätzen in einer besseren Zukunft, in der wir einander beflügeln, anstatt bekämpfen. In einer Zukunft, in der wir leben wollen und wollen, dass unsere Kinder und Enkel dort leben. Eine Zukunft des Ermöglichens anstatt der heutigen Gegenwart des Verhinderns. Eine Zukunft des Zuhörens, des sich aufeinander Einstimmens, der Kooperation, der wechselseitigen Unterstützung, des Verstehens, der Herzensbildung. In dieser Zukunft müssen wir das Sinn-Vakuum in uns, in unseren Unternehmen und in unserer Gesellschaft auch nicht mehr durch Konsum und durch materielles Wachstum, also über die Ausbeutung von Ressourcen, vergeblich zu stopfen versuchen. In dieser Zukunft gehen wir aufeinander ein und aufeinander zu, aber niemals aufeinander los. Das wäre ein Happy End und somit ein echter Anfang.

Also: nichts wie raus aus der Komfortzone und rein in den Gesprächsraum! Bist du dabei? Eine ist das definitiv, nämlich meine Großmutter, die alte Story Dudette. Sie sitzt dort im Raum, den man Freiheit nennt, jenseits von gut & böse, und wenn du genau aufpasst, hörst du, was sie in ihren ziemlich struppigen Bart murmelt: „New Story. New Glory.“

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