Markus Gull

Was wir sehen, wenn wir Serien sehen.

Ist es nicht erstaunlich, in wie kurzer Zeit Streaming-Plattformen wie Netflix uns das, was man früher Fernsehen nannte, vollständig neu einsortiert haben? Kaum jemand kommt ohne seine Lieblingsserien aus, über die in schwärmerischer Begeisterung berichtet wird. Mit nachdrücklicher Empfehlung, versteht sich. Serienmarathon als Breitensportart, quasi.

Bingewatching – warum machen wir das?


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Der Aspekt von Unterhaltung, Zerstreuung und Alltagsflucht spielt eine große Rolle, so viel steht fest. Wenn man einmal in eine Serie reingekippt ist, will man ganz einfach dringend wissen, wie’s weitergeht. Jede halbwegs geschickte Autorin sorgt mit ein paar Kniffen dafür, dass man wissen will, wie’s ausgeht. Ob’s wirklich gut ausgeht – also genau so, wie wir uns das wünschen. Ob die Richtigen das bekommen, was sie wollen. Oder was sie verdienen. Also: was sie tatsächlich brauchen. Und das ist meistens eben gerade nicht das, was sie wollen. Oft sogar das Gegenteil davon. Schwupps sind sie aus ihrer Komfortzone gestoßen und stolpern am Erkenntnisweg ihrer möglichen Verwandlung entgegen, und wir fragen uns: Wird das dieser Figur gelingen? Schon sind wir reingekippt. Wir haben begonnen, mit einer der Figuren mitzufühlen – der Empathie-Funke hat gezündet.

Es geht um Empathie. Zwar kann Sympathie auch nicht schaden, allein: eine emotionale Brücke, die auf Sympathie gebaut ist, schwankt auf wackelig dürren Beinchen. Empathie hingegen ist stabil. Die können wir sogar mit einer uns unsympathischen Figur empfinden. Wir verknüpfen unser inneres Band mit dem des Charakters. Wer „The Joker“ gesehen hat, weiß, wie’s läuft: von Sympathie keine Spur, von Empathie jede Menge. Wir fühlen mit fiktionalen Charakteren mit, weil wir die Situation der Figur kennen, ihre Emotion, weil wir uns dieselben Fragen stellen, dieselben Schmerzen, Traumata, Sehnsüchte durchleiden, aufs Selbe hoffen. Weil wir uns auf einem ähnlichen Weg befinden, nur halt in unserer eigenen Welt.

In fiktionalen Geschichten und ihren Charakteren erschaffen und erkennen wir Menschen eine Welt, mit der wir uns unsere eigene Wirklichkeit erklären können. Ja, unsere eigene Wirklichkeit.

Kennst du deine Geschichte?

Yuval Noah Harari beschreibt das in seinem Buch „Homo Deus“ so: „Jeder von uns verfügt über ein ausgeklügeltes System, das die meisten unserer Erlebnisse wegwirft, nur ein paar ausgewählte Exemplare behält, diese mit Stückchen aus Filmen, die wir gesehen haben, Romanen, die wir gelesen haben, Reden, die wir gehört haben, und unseren eigenen Tagträumen vermengt und aus all diesem Wirrwarr eine scheinbar kohärente Geschichte darüber strickt, wer ich bin, woher ich komme und wohin ich gehe. Diese Geschichte sagt mir, was ich lieben, wen ich hassen und was ich mit mir selbst anfangen soll. Diese Geschichte kann sogar zur Folge haben, dass ich mein Leben hingebe, wenn die Handlung es erfordert. Jeder hat dabei sein eigenes Genre: Manche leben eine Tragödie, andere bevölkern ein niemals endendes Glaubensdrama, manche führen ihr Leben wie einen Actionfilm, und nicht wenige agieren wie in einer Komödie. Aber letztlich sind es immer nur Geschichten.“

Besser kann man es nicht sagen, oder? Kürzer schon, so wie das Max Frisch getan hat: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“

Oder er findet eine Geschichte, die sein Leben enthält. Das Leben, wie es sein kann, das Leben, wie es sein sollte, sein Leben. „Es gibt mehr Schätze in Büchern“, sagte Walt Disney, „als Piratenbeute auf der Schatzinsel, und das Beste ist, du kannst diesen Reichtum jeden Tag deines Lebens genießen.“ Bibliotheken sind seit jeher, Streaming-Plattformen neuerdings, reich befüllte Fundgruben. Brodelnde Schatzkisten der Selbsterkenntnis.

Der Autor Dan Fogelman hat uns dort ein besonders funkelndes Juwel hineingelegt: die Serie „This is us“. Was für ein Künstler, dieser Dan Fogelman! „This is us“ läuft auf NBC und wird in unseren Breiten auf Amazon Prime gestreamt, derzeit in der sechsten und letzten Staffel zu besichtigen. Unbedingt machen!

Die atemberaubende handwerkliche Qualität des filmischen Erzählens wäre allein schon einen mehrfachen Kompliment-Salto wert. Aber das, was dem Publikum hier an nahrhaften Erkenntnis-Impulsen angeboten wird, ist eine Quelle der reinen Freude und vitales Beispiel dafür, was so genannte Unterhaltungsproduktionen tatsächlich leisten können, wenn empathische Menschen mit liebevoller Genauigkeit ihre Arbeit als Künstler tun und also etwas in die Welt hineinhelfen, was vielen anderen die Seele nährt.

Kennst du eine glückliche Familie?

Nicht jeder kennt Leo Tolstois „Anna Karenina“, aber fast jeder kennt den ersten Satz aus diesem Epos: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Allzu viele kennen diese Erfahrung, und die kennen sie hautnah. Die Familie Pearson aus Pittsburg kennt beides.

„This is us“ erzählt die Geschichte der Pearsons – heute erwachsene Drillinge und ihre Eltern – im Jetzt, in weiten Rück- und Vorblenden, und das fühlt sich dabei über weite Strecken so an wie eine Live-Übertragung aus der eigenen Seele. Die Achse, um die sich bei „This is us“ alles dreht, ist die Sehnsucht nach Verbundenheit in den kleinsten Zellen menschlichen Zusammenlebens: als Liebespaar und als Familie. Die Sehnsucht nach so was wie Familie, wie sie sein könnte und sollte und mit jeder Generation offenbar etwas mehr erodiert. So ist das ja, oder?

This is us – das sind wir: fehlerhafte Menschen, im ständigen Bemühen und im wiederholten Scheitern stolpernd, das zu sein, was man anständig nennen könnte. Verheddert in den Fragen, die einem das Leben stellt. Wie ist man denn ein guter Mensch, und wer ist das schon? Wie kann ich ein guter Mensch sein? Was ist denn das überhaupt, ein guter Mensch? Gelingt mir das – getrieben von Sehnsüchten nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Liebe? In wem kann ich mir ein Vorbild suchen, wem ein Vorbild sein? Wie gelingt es, Familie zu sein, Familie zu werden, zumal in einer Zeit, in der alles, alles, alles auseinandertreibt. Uns alle auseinandertreibt? Wo sind denn unsere Wurzeln, und wofür brauchen wir die? Dann wieder: im hautnahen Erleben verstehen, dass Liebe geben genau so lebenswichtig und schwierig ist wie Liebe bekommen. Und: Was heißt es, Verantwortung zu übernehmen – für mich, für andere? Kann ich das? Solche Fragen und: Wie kann ich etwas gut machen, etwas besser machen als die, die mich verletzt haben? Kann ich das, was mich verletzt hat, aus der Welt schaffen und andere davor beschützen? Vor allem das: kann ich etwas wiedergutmachen? Denn genau das ist es ja, was uns Menschen – und nur uns Menschen – gegeben und damit aufgegeben ist.

„This is us“: ein Stück – meinetwegen – amerikanisches Unterhaltungsfernsehen rührt mit fiktionalen Betrachtungen in der eigenen inneren Fragezeichenwelt um. Warum bringt das so genannte öffentlich-rechtliche Fernsehen derlei praktisch nie zustande? Wäre das nicht eure Aufgabe? Was denn sonst? „Big Bang Theory“-Wiederholungen abspielen?

Wer schreibt, heißt es, schreibt nicht, um anderen, sondern um sich selbst die Welt zu erklären. Manche – Schriftstellerinnen, Autoren, Lyriker, Essayistinnen – lassen andere daran teilhaben und leuchten mit ihrem Suchscheinwerfer ein bissel was in unserem Keller aus. So wie Dan Fogelman und das Autorenteam von „This is us“ sagen sie: „So sehe ich die Welt. So sehe ich das Leben. So könnte das Leben sein.“ Sie machen uns ein Angebot. Sie laden uns in diese ihre Welt ein, teilen ihre Perspektive, ihre Sicht auf die Dinge des Lebens mit uns. Aber mehr noch stellen sie Fragen auf der Grundlage ihrer Werte und ihrer Weltsicht.

Es sind nämlich immer die Fragen, die uns weiterbringen, nicht die Antworten. Schon gar nicht die schnellen. Immer wieder, wieder und wieder erscheint in unterschiedlichen Gestalten unser Ur-Fragen-Drilling:

Wer bin ich?

Warum bin ich?

Was wird sein, wenn ich nicht mehr bin?

Wer weiß das schon!

Deshalb erzählen wir uns selbst und einander Geschichten – Sagen, Märchen, Mythen, Filme, Serien, Romane – auf Bühnen und an Lagerfeuern. Und auch Religionen sind doch letztlich nichts anderes als metaphorische Geschichten, mit denen wir uns Spiritualität erklären, damit wir dort einen Sinn in unserem vergänglichen Leben entdecken. Unser Leben ist nämlich die spannendste Geschichte überhaupt, und das, obwohl wir ganz ohne Spoiler-Alert genau wissen, wie sie einmal ausgeht.

Übrigens: der Darsteller des Onkel Nicky in „This is us“ ist Griffin Dunne, Schauspieler, Produzent, Regisseur. Auf Netflix kann man seine Dokumentation „The center will not hold“ ansehen, einen Film, den er über seine Tante machte, die im Dezember verstorbene, verehrte Autorinnen-Ikone Joan Didion. Joan Didion sagte einmal: „I write entirely to find out what I’m thinking, what I’m looking at, what I see and what it means. What I want and what I fear.“ Ein Glück, dass sie uns daran teilhaben ließ!

Kennst du Journaling?


Das, was Joan Didion tat, können wir alle tun, ganz einfach, vermutlich minus National Book Award, aber das macht nichts. Immer mehr Menschen tun das, und das hat selbstverständlich bereits ein Label bekommen: „Journaling“ steht da drauf und meint, man setzt sich an den Tisch, am besten morgens, lässt seine Gedanken laufen, schreibt mit und staunt, was man da plötzlich alles aus sich hervorzaubert. Was man sich erklärt, in sich klärt, erkennt und versteht. Was sich dabei in einem verwandelt und erhellt. Journaling ist keine Chronik der Ereignisse, wie ein Tagebuch es ist, sondern eine Expedition ins eigene Innere, eine Entdeckungsreise in Richtung innere Story, ein Morgenspaziergang in den Wahrheits-Wald. Plötzlich sieht man Wald und Bäume.

Die Form? Egal!

Stil und literarischer Wert? Egal!

Verständlichkeit für andere? Egal!

Wer schreibt, schreibt nicht, um anderen, sondern um sich selbst die Welt zu erklären.

Von Joan Didion gibt’s eine Essay-Sammlung unter dem Titel „We tell ourselves stories in order to live.“ Die Geschichten, die wir uns und einander erzählen, halten uns am Leben, denn das sind wir. This is us – so oder so. Oder so.

Es ist also keine Frage, ob wir uns eine Geschichte erzählen, sondern welche das ist.

Die ewige Geschichte, die wir uns und einander erzählen, in Sagen, Märchen, Religionserzählungen, Mythen, Filmen, Serien, Romanen, auf der Bühne und an Lagerfeuern, ist die Geschichte von „Gut gegen Böse – und das Gute muss gewinnen“. Die Guten sind in dieser Geschichte immer wir, die Bösen sind die Anderen. Das Andere ist alles, was uns am Weg zum Gewinnen im Weg steht, also konsequent beherrscht, bezwungen und besiegt werden muss. Was wir dafür brauchen, das darf benutzt, ausgebeutet und verputzt werden. Alles und jeder dient als Ressource für unseren Gewinn, weil damit wir – also die Guten – gewinnen. Diese Geschichte erzählt sich geschmeidig, spannend und facettenreich. Sie ist – wenn wir uns die segensreichen Errungenschaften von Wissenschaft, Technik, Medizin und solchen Sachen ansehen, die durch diese Geschichte angetrieben wurden – höchst effizient. Und sie macht uns darüber hinaus das verzwickte Leben einfach, denn „… diese Geschichte sagt mir, was ich lieben, wen ich hassen und was ich mit mir selbst anfangen soll. Diese Geschichte kann sogar zur Folge haben, dass ich mein Leben hingebe, wenn die Handlung es erfordert“. – Spannend, effizient, einfach.

Und falsch.

Denn wenn du die letzten 20 Jahre nicht unter einem Stein verbracht hast, dann hast du ja längst bemerkt, was dabei rauskommt, weil wir in der Geschichte der Anderen nicht wir, sondern die Anderen sind, also die Bösen. Die alte Geschichte von Gut gegen Böse trägt in Wahrheit den Titel: „Jeder gegen jeden“.

Kennst du die New Story?


Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine neue Geschichte brauchen, eine bessere. Diese neue Geschichte, die „New Story“, erzählt vom Gleichklang in Verbundenheit von Gegensätzen in einer besseren Zukunft, in der wir einander unterstützen anstatt einander zu bekämpfen. Die Hauptfiguren in dieser Geschichte, also die Heldinnen und Helden, sind die, die der Dalai Lama meinte, als er sagte: „Der Planet braucht keine erfolgreichen Menschen mehr. Der Planet braucht dringend Friedensstifter, Heiler, Erneuerer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Art.“

Sie erzählen und ermöglichen so die Geschichten einer Zukunft, in der wir leben wollen, und von der wir wollen, dass unsere Kinder und Enkel dort leben und miteinander Serien bingewatchen. Die New Story erzählt von einer Zukunft des Ermöglichens anstatt von der heutigen Gegenwart des Verhinderns. Eine Zukunft des Zuhörens, des sich aufeinander Einstimmens, der Kooperation, der wechselseitigen Unterstützung, des Verstehens, der Herzensbildung.

Die Hauptfiguren, also die Helden in dieser Geschichte, sind Bestärker, nicht Besieger, denn dort bestimmt Zusammenarbeit die Handlung und nicht Dominanz, wie man in der alten Story erzählte. Sie wissen: Ich kann etwas gut machen, etwas besser machen als die, die mich verletzt haben. Ich kann das, was mich verletzt hat, aus der Welt schaffen und andere davor beschützen. Das ist mir aufgegeben, in dieser New Story, ist uns aufgegeben. Arbeitstitel: „This is us“.

Das alles geht unter Garantie nicht schnell. Dafür müssen wir unbedingt in Generationen denken, und an allen Orten braucht’s Gleichgesinnte. In der Bildung, in der Wirtschaft, in der Politik. Vor allem in der so genannten Zivilgesellschaft braucht’s Anführer, die die richtigen Fragen eintakten, aus denen die neuen Geschichten in fröhlich wogenden Bingewatch-Wellen herausbrechen. Fragen wie: Wem kann ich ein Vorbild sein? Was heißt es, Verantwortung zu übernehmen – für mich, für andere?

Diese neue Geschichte wird sich mit Glück in einer ewig laufenden Serie erzählen und mehr Folgen haben als die „Simpsons“. Vermutlich hast du bereits erraten, was meine Großmutter, die alte Story Dudette, gerade macht: Ja, sie werkt am Drehbuch für die Episode 1, mit dem einladenden Titel „New Story. New Glory.“

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