Markus Gull

Was riecht denn hier so komisch?

Riechst du’s auch? Was ist denn das, was da so miachtlt? Ist das etwa Werbung?

Hm …

Mir scheint, für Werbung gilt das, was der großartige Franz Zappa sel. über Jazz sagte: „Jazz isn’t dead. It just smells funny.“

Nein, Werbung ist nicht tot. So was wie Werbung wird’s immer geben. Reklame auch. Schon alleine deshalb, weil ja sonst niemand von selbst über die profansten Dinge etwas erfährt, wie zum Beispiel, dass der Weiße Riese in Aktion ist, dass es beim Autohändler wieder frische Teslas gibt und außerdem, dass Ende des Monats der Kirtag steigt, bei dem das Zillertaler Jodlertrio ein Comeback wagt (endlich). Sowas muss einem ja irgendwer sagen, oder?


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Aber Werbung im Sinne von Werbung – Fernsehradioplakatonlinewerbung und so –, dort, wo Marken aufgebaut werden, Images entstehen und Begehrlichkeiten entflammen, diese Werbung, die wird vermutlich … auch nicht sterben. Allerdings: Wenn sie weiterhin das tun soll, was sie schließlich tun soll, dann ist jetzt aber allerhöchste Zeit für etwas Neues. Und zwar für etwas grundsätzlich Neues, sonst wird’s eng. Dann wirkt das alles nicht mehr, auch wenn es noch lebt. Dann riecht’s nur noch komisch. Tut es ja bereits.

Ja, ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Inhalte von Werbung ändern müssen, sich ändern werden. Tun sie ja bereits, manchmal wenigstens. Wäre ja nicht das erste Mal, dass sich Werbeinhalte massiv verändern.

Advertising oder Adverstalking?

Damals, oder sogar noch ein bisschen früher als damals, gab’s ja nichts außer Verkündigungen, Anpreisungen, Marktgeschrei, Reklame und Propaganda. Das war alles, was man kannte, und zwar so lange, bis irgend jemand die Idee hatte, eine Idee zu haben und die üblichen Botschaften ein wenig origineller, charmanter, weniger laut, dafür intelligenter zu verpacken. Ich hab’ keine Ahnung, wer das war, der damit begann, die Menschen mit erfrischender Eleganz von ihrem Geld zu trennen, aber er veränderte die Werbewelt zum Besseren und läutete die Ära der Mad Men ein. Mad Men nannte man in der Goldgräberzeit der amerikanischen Werbung der 1950er-Jahre jene Werber, also die Ad Men, in den angesagten New Yorker Werbeagenturen, die meist in der Madison Avenue in Manhattan ihre Büros betrieben. Was für ein mehrfach hübsch verschraubtes Wortspiel. Da hüpft das Werbetexterherzelein in lichte Höhen!

Da gingen eine Menge schillernder Persönlichkeiten um – David Ogilvy, Bill Bernbach, Rosser Reeves, Leo Burnett … Der allerliebste Mad Man aus dieser Zeit war mir allerdings stets Howard Luck Gossage. Der war so mad, dass er nicht an der Madison Avenue, sondern gleich einmal in San Francisco arbeitete. Damit fängt’s schon an. Seine Agentur hatte er in einer alten Feuerwehrstation, und er war auch sonst verrückter als alle anderen. Insofern ist Howard Gossage schon mehr als ein echtes Vorbild. Und sonst auch – als schräger Vogel, cooler Denker und „Socrates of San Francisco“ mit vielen seiner Ansagen von damals bis heute ein spektakulärer Visionär. Steve Harrison hat eine sehr empfehlenswerte Biografie über Howard Gossage geschrieben. Schon ihr Titel sollte uns allen und der Werbewelt insbesondere Programm sein: „Changing the world is the only fit work for a grown man.“

Vermutlich denkst du bei Mad Men an die TV-Serie aus der Feder von Mat Weiner. Die Pilot-Episode dafür schrieb er bereits 1999, und es brauchte dann noch bis 2007, bis endlich jemand das Juwel erkannte und die Serie endlich auf Sendung brachte. Sie lief damals auf AMC, wenn du Lust hast, kannst du alle sieben Staffeln auf Amazon Prime bingen (reinpfeifen, wie man einstens dazu sagte). Zahlt sich aus!

Mad Men war eine echte Novität. Weniger wegen der Werberszene, die sie beschrieb, sondern wegen der meisterlichen, mit enormer Liebe zum Detail auch in der Ausstattung gezeichneten Alltagszeitkultur und deren Veränderung in Zeiten der gesellschaftlichen Umbrüche nach dem WWII, die sich in Branche und Botschaften markant abbildete. Stichwort: Umgang mit Frauen, Schätzchen … Und vor allem aber war Mad Men wegen des meisterlich erzählten Meta-Themas so großartig, wegen der inneren Story über Wahrheit & Lüge, wie leicht man die beiden verwechselt – und es vorsichtshalber selbst nicht bemerkt, weil das mit der Wahrheit eben doch nicht ganz so einfach ist. Wahrheit in der Werbung mag ja vielen überhaupt als Widerspruch in sich erscheinen, wobei „Truth well told“ bis heute sogar als Motto der Werbeagentur McCann dient, die es seit 1912 gibt und jedem über ihre jahrzehntelange Arbeit für Coca-Cola bekannt ist.

Ist Werbung Kunst oder tot?

Werbung war tatsächlich einmal eine stilbildende Kraft im Spielraum der Populärkultur – und umgekehrt, wie etwa Andy Warhols Arbeit zeigt. „Ist Werbung Kunst?“ war eine häufig gestellte Frage. Heute fragen sich viele – nicht zuletzt inmitten der epochalen Umbrüche unserer Medienlandschaft: „Ist Werbung tot?“

Ja, aus Advertising ist Adverstalking geworden und nervt die Menschen ohne Ende, mich auch. Aber wie! Adverstalking macht uns zu Klickraten, Conversion-Rates, Kontaktzahlen, Zielgruppen und Bestellnummern. Das nimmt den Menschen die Würde, weil sie nur noch als „Source of Income“ betrachtet werden, als Kreditkartenzücker, als verwertbare Datensätze.

Da ist uns wahrlich allerlei aus dem Ruder gelaufen.

Da muss dringend eine Menge zurechtgerückt, ver-rückt werden. Dafür braucht es verrückte Verrücker – Mad Men und Women einer neuen Spielklasse, ja: Stil-Klasse mit vorausgehender Korrektur des branchenimmanenten Haltungsschadens. Schon die schiere Wucht der medialen Verbreitung von Werbung bewegt ja allerlei, so oder so. Werbung und die, die sie machen, tragen alleine deshalb eine enorme Verantwortung. Verantwortung und Werbung? – Auch so ein Widerspruch …

Aber nein! Ich bin sogar fest davon überzeugt, dass es sich auszahlt, wenn Unternehmen und Marken diese Verantwortung annehmen und ihren Werberaum mit Dingen füllen, die einen positiven Beitrag zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung leisten. Das meint natürlich die Werbeagenturen ganz besonders. An allem Anfang aber braucht es beherzte Unternehmer und Verantwortliche in den Unternehmen, die selbst neu denken und neues Denken nicht nur zulassen, sondern fordern. Die neuen Inhalte müssen ja von irgendwo herkommen, oder? Es gibt schließlich auf der ganzen Welt kein einziges Werbefutzel, dessen Herstellung nicht irgend jemand veranlasst und zu dem nicht jemand in einem Unternehmen gesagt hätte: „Ja, so machen wir das!“ und das Geld dafür hergegeben hätte.

Das ist in der Werbung so wie in allen anderen Feldern der Popkultur. Irgendwann hatte zum Beispiel jemand allen Ernstes den Mut, bei einem Meeting mit Produzenten in Hollywood zu sagen: „Ich habe eine Filmidee! Stellt euch vor, ein Tornado wirbelt eine Unmenge Haie in die Luft und lässt sie über Los Angeles niedergehen.“ In diesem Meetingraum befand sich tatsächlich niemand, der dem Typen in seine weiße Jacke geholfen und dann deren Ärmel hinter seinem Rücken verknotet hat. Nein, im Gegenteil. Jemand hat gesagt „Ja, so machen wir das!“ und dann das Geld dafür hergegeben. Wenn ich richtig gezählt habe, gibt’s mittlerweile sechs Folgen von „Sharknado“, und die wurden nicht deshalb produziert, weil die erste Ausgabe ein Flop war …

Verrückt oder komisch?

Solcherlei verrücktes Zeugs kann man machen, muss man aber nicht. Sollte man auch gar nicht, nicht mal vorschlagen sollte man sowas. Aber man könnte – als Werbemensch zum Beispiel – andere Verrücktheiten zu den Auftraggebern bringen: „Stellt euch vor, wir werben nicht mehr für unsere Produkte, sondern für ein Anliegen, das wir haben und aufgrund dessen wir das produzieren, was wir produzieren. Stellt euch vor, wir stoßen damit positive Veränderung in der Gesellschaft an.“

Riecht das komisch? Ich glaub’ schon, aber ganz anders komisch als Werbung komisch riecht, nicht wahr?

Ich helfe aktuell einer Reihe von Unternehmen – teilweise sogar recht alteingesessenen – genau dabei: Anliegen finden, definieren und in die Welt bringen. Da ist eine Bank dabei, ein Hersteller von Nahrungsergänzung, eine Versicherung, eine Marke für Schutzbekleidung sowie ein Kosmetikhandel. Allen geht’s um dasselbe, und jedes dieser Unternehmen ist verrückt. Es verrückt sich, rückt sich zurecht. Jedes dieser Unternehmen verwandelt sich in eine Content Company, einen Teil dieses Contents kann man am Konto sehen, essen, als Polizze haben, sich anziehen, sich damit eincremen …

Das Beste daran: seit einigen Jahren zeigen einschlägige Untersuchungen, dass die Menschen (fka Klicks, Conversionrates, Zielgruppen und Bestellnummern) das nicht nur schätzen, nicht nur suchen, sondern in zunehmendem Maße von Unternehmen sogar verlangen. Ich korrigiere: nicht in zunehmendem Maß, sondern in rasend wachsendem Ausmaß! Es sind noch nicht alle, es sind noch nicht überwältigend riesige Menschenmassen, aber es werden mehr und mehr und mehr. Es sind schon so viele, dass es meiner Einschätzung nach kein Aufhalten mehr gibt.

Und auch das zeigen einschlägige Untersuchungen: Marken und Unternehmen, die es schaffen, einen besonderen Purpose zu vermitteln, werden mit markant besseren Kennzahlen, einem deutlich stärkeren Anteil am allseits beliebten Share of Wallet und einer signifikant besseren Börseperformance belohnt als die, die’s nicht machen. Es geht also nicht um meine schönen Hirngespinstereien, sondern um knochentrockenen Erfolg, um echte Kohle und solche Sachen. Genau genommen geht’s ums Ganze. Denn wenn ein Unternehmen kein echtes Thema hat, dann bleibt früher oder später sowieso nur noch eines: der Preis. Der schrumpfende Preis, ebenfalls genau genommen.

Mensch oder Verbraucher?

Und wenn wir schon über Werbung, Wahrheit, Lüge und Verantwortung sprechen: Mit Anliegen ist kein Gag gemeint, kein Greenwashing, Meanwashing oder Greencashing. Dafür gibt’s nämlich den wohlverdienten Shitstorm von der Community, also das, was man an der Madison Avenue ein Packerl Haustetschn nannte.

Woran liegt dieser Wandel? Vielleicht stimmt immer noch, was Howard Gossage seinerzeit schon sagte: „Als Mensch, anstatt als Verbraucher, angesprochen, sind die Leute sogar imstande, zu kaufen.“ Und diese Menschen interessieren sich heutzutage für andere Themen als noch vor fünf, zehn oder 50 Jahren und, wieder Howard Gossage: „Niemand liest Anzeigen. Die Leute lesen, was sie interessiert. Manchmal ist das eine Anzeige.“

Wären unsere Zeiten der vielfältigsten Umbrüche nicht die perfekten Zeiten, und wäre es nicht noch dazu höchste Zeit für dieses Verrücken des vermeintlichen Status quo? Ich glaube nicht, dass dem so ist, ich bin felsenfest davon überzeugt! Wir sollten schnell, beherzt und unbeirrt das tun, was Verrückte eben so tun. So wie es in einem Werbefilm heißt, im legendären Stück aus dem Hause Chiat/Day (Mad Men in Venice/Los Angeles) für Apple: „Diejenigen, die verrückt genug sind, zu denken, sie können die Welt verändern, sind diejenigen, die es tun werden.“ Die Kampagne etablierte 1997 den Apple-Claim „Think different“ bis heute, obwohl er gar nicht mehr im Einsatz ist.

Darum geht’s, und hier schließt sich ein Kreis zu Don Draper, der Hauptfigur aus der Serie Mad Men. In seinen Präsentationen umfing er die Klienten mit Geschichten, die von den Menschen erzählten, die zu Kunden werden sollen. Don Draper erzählte Geschichten über ihre Hoffnungen, Wünsche und Ängste. Storytelling war das Geheimnis seines Erfolges, könnte man sagen.

Es sind immer Geschichten, die wir erzählen – uns selbst und einander –, mit denen wir Wahrheiten entdecken, Standpunkte einnehmen und ebenso verändern. Es sind immer unsere Perspektiven, unsere Geschichten, unsere Werte, Ansichten und Einsichten.

Wenn jeder Mensch, jedes Unternehmen, jeder von uns ein bissel was zurechtrückt, dann wäre doch die Tür zu einer neuen Geschichte für uns alle bereits ein Stück weit offen, oder? Einen Spalt weit, durch den ein bissel ein anderes Licht hereinkommt. So könnte doch ein anderes Licht auf alles fallen, was wir tun, Werbung inklusive.

In diesem Licht könnten wir allen anderen positive Signale senden, Zuversichtsimpulse geben und alle anderen dabei unterstützen, dasselbe zu tun. Daraus entstünde womöglich sogar ein Morgen, das das Zeug zu einer neuen, einer besseren Geschichte für uns alle hat, die von uns allen handelt und unsere Stärken multipliziert.

Wenn wir das füreinander tun, dann tun wir das gleichzeitig auch für uns selbst. Dann begegnen wir einander jenseits von richtig und falsch, um bei Rumi zu borgen.

Und ich glaube, das meinte meine Großmutter, die alte Story Dudette, die als eines der ersten legendären Supermodels jede Menge Verehrer in der Madison Avenue hatte, aber nur Don Draper mit ihrem herzblutroten Lippenstift an den Badezimmerspiegel schrieb: „No Story. No Glory.“

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