Markus Gull

Heldenreise (5): Wie gut, dass es das Böse gibt.

Das Gute gewinnt, wenn es das Böse besiegt. Eine Meta-Botschaft, die uns in vielen, vielen Geschichten über Generationen und Kulturen hinweg immer wieder in unterschiedlichsten Varianten erzählt wird. In Epen, Mythen, Heldensagen, in Märchen, in Liebesgeschichten, in Krimis, Komödien und Biografien: Am Ende ist alles gut, und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende. Happy End.

Mit „Happy End“ und dem großen Irrtum, der damit verbunden ist, werden wir uns in einer späteren Folge dieser Serie noch beschäftigen. Wer es nicht mehr erwarten kann, soll zu diesem Thema inzwischen ein wenig in der Poetik von Aristoteles schnüffeln.


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Im Blogcast lese ich Dir diesen aktuellen Blogartikel vor. Mit Betonung, versteht sich!


So viel schon jetzt: Deine Geschichte hat dann ihr Ende, wenn sich die Hauptfigur verwandelt hat. Wenn nicht, hast du entweder keine Story, sie nicht gut erzählt, oder sie selbst nicht verstanden. Oder eben nicht zu Ende. Von happy ist hier nicht die Rede.

Zum Stichwort „verwandelt“ kommen zwei Akteure ins Story-Spiel: der Mentor und der Antagonist. Der eine ist der Unterstützer, der andere der Gegenspieler unserer Hauptfigur. Zum Mentor findest du hier einige weitere Gedanken. 

Der Mentor kommt in den allermeisten Geschichten vor, und das in ganz unterschiedlichen Gestalten, er ist aber nicht unabdingbar. Ohne Mentor geht’s auch irgendwie, ohne Gegner geht aber gar nichts. Denn ohne Gegner kein Konflikt und ohne Konflikt keine Story.

Nicht einmal die banalste Allerweltsfernsehserie kommt ohne Konflikt aus. Wenn die Figuren dort nicht wenigstens Probleme zu lösen hätten, wären die Geschichten nicht nur schlecht, sondern auch noch fad und völlig uninteressant. Das geringstmögliche Interessen-Niveau, das keinesfalls unterschritten werden darf, aktiviert zumindest die Frage des Publikums: „Wie geht die Sache aus?“ Wenn das nicht geht, geht nichts mehr. Es ist also pure primitive Neugierde, die uns oft auch schlechte Filme zu Ende ansehen lässt, und gleichzeitig Gottes strenger Hinweis darauf, dass wir in unserer alltäglichen Hektik offenbar doch noch immer deutlich zu viel Zeit haben.

Leben ist Konflikt, oder fad.

Story ist das Abbild unseres Lebens – also eine unaufhörliche Kette von Konflikten, die wir zu lösen haben. Große und kleine, bedeutende und unbedeutende – von der kleinen nervigen Angelegenheit bis hin zum lebensentscheidenden Dilemma.

Du kannst in vier Bereichen Konflikte und somit dort Gegner haben:

  1. physische Konflikte – zum Beispiel schlechtes Wetter bei der Gartenparty, die Klimakrise, einen Vulkanausbruch oder Keuchhusten.
  2. Konflikte mit der Gesellschaft und ihren Institutionen – die verdiente Strafe fürs Falschparken, unser inferiores Bildungssystem, das deine Kinder beschädigt, oder die Steuernachzahlung.
  3. Konflikte in Beziehungen – mit den rotzfrechen Kindern deiner Nachbarn, mit deiner Frau, mit deinen Eltern, mit dem Godfather of Mansplaining, der ausgerechnet dein Vorgesetzter ist, der blöde Arsch.
  4. innere Konflikte – Eigenschaften, Verhaltensweisen, Angewohnheiten oder Reaktionen, die du an dir selbst erkennst und nicht magst. Oder die du an den Tag legst und nicht erkennst, bis dir jemand oder etwas vor Augen führt, dass … Jemand? Die antagonistische Kraft!

Häufiger als man glauben möchte und auf den ersten Blick zu erkennen ist, sind äußere Konflikte nichts anderes als Spiegelbilder oder die Rahmen dafür, was sich in uns selbst abspielt. Aufgaben, die unsere inneren Konflikte anstoßen. Zufällig, weil uns das Leben Aufgaben zu-fallen lässt …

Übermächtige Antagonisten lassen uns mächtig wachsen.

Ein Konflikt, ausgelöst und getragen durch eine mächtige Antagonistin, am besten durch eine – scheinbar – übermächtige zumal, ist das Beste, was einer Story passieren kann. Denn erst durch sie lernt die Heldin, lernen wir. Erst durch die Überwindung dieser Kraft mittels unserer positiven Gegenkraft entsteht Wachstum. 

Das ist also das Beste, was dir und deiner eigenen Story widerfahren kann, denn so wird Verwandlung angestoßen, im besten Fall hin zu dem Menschen, der du sein könntest und solltest. Zu einer besseren – wahreren – Version deiner selbst.

Noch einmal: Es sind antagonistische Kräfte, die wirken, denn ein Gegner muss längst nicht immer eine Person sein. Und in vielen Fällen großer, bedeutender Geschichten sind Personen als Gegner eben gar nicht die wahre Herausforderung, sondern verkörpern im bildlichen und tatsächlichen Sinn als Personen nur antagonistische Kräfte, die an einer ganz anderen Stelle hausen, toben und wüten: in der Heldin selbst. In uns.

Der Teufel sitzt nicht im Detail, sondern in dir.

Mitunter bildet die sichtbare antagonistische Kraft nur den Rahmen für die Bewährung der Heldin, die, im Verlauf dieses äußeren Kampfes, im Inneren eingefordert wird. Das Abwenden eines menschheitsauslöschenden Meteoriteneinschlags vulgo Armageddon oder das Besiegen der allzu gefräßigen Hyänen durch Simba und seine Mitstreiter ist dann quasi nur noch die – durchaus erwünschte – Nebenwirkung, damit wieder Platz ist für Hakuna Matata. Eine Zeit lang, bis zum nächsten Konflikt.

In der Marketingkommunikation gibt es einige Beispiele für diese Polarität im Kampf mit dem äußeren Gegner, der antagonistischen Kraft und der eigenen Bewährung, die sich – so schwierig das auch ist – am banalsten in den Produkten eines Unternehmens übersetzt, in Wahrheit allerdings erst in der Unternehmenskultur lebendig wird. Allzu häufig aber nicht …

Apple fällt mir da natürlich zuerst ein. Erinnere dich an die Einführung des Macintosh im Jahre 1984, als sich der äußere Gegner als die alles beherrschenden Großkonzerne manifestierte, die mit ihrer Macht und Monopolstellung die Menschen in einem technoiden Big-Brother-System gleichschalten. So hieß es dann auch im legendären TV-Werbespot von Apple 1984: „… and you will see why 1984 will not be like 1984 …“

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Die Botschaft von Apple war nach außen die Bekämpfung dieser Orwellschen Hegemonie, nach innen ging es aber um die Entfaltung der kreativen Kraft und um die Entfaltung des eigenen Schöpfungsdranges der Menschen, der mit den Geräten aus Cupertino gefördert werden soll.

In der Variante dieser Story, die schließlich 1997 rasch zur Legende wurde und es bis heute blieb, sprach Apple die antagonistischen Kräfte in einem viel breiteren Kontext an und rief sich selbst mit dem Schlachtruf „Think different“ zum spirituellen Anführer und offiziellen bunten Waffenlieferanten der Crazy Ones aus, jener Menschen, die so verrückt wären, zu denken, sie könnten die Welt verändern und es folglich auch als Einzige tun würden.

Gäbe es dieses antagonistischen Kräfte nicht, wäre Steve Jobs’ und Steve Wozniaks Gegensehnsucht niemals entflammt, wäre Apple niemals entstanden und gewachsen, und Du würdest diesen Text nicht auf Deinem iPad lesen, sondern auf irgendeinem Microsoft-Trumm.

Apropos Microsoft: Sind die Gegner also wirklich immer Schurken? Weit gefehlt! Im Gegenteil. Jede Antagonistin in Deiner Geschichte ist die Protagonistin in ihrer eigenen, in der du wiederum die Antagonistin bist. „One man’s trash is another man’s treasure“, sagt ein altes Sprichwort, und dein Wunschtraum kann der Alptraum eines anderen Menschen sein. Bill Gates hat vermutlich nicht weniger Fans als Steve Jobs, nur eben andere.

Wer ist gut, wer böse?

Natürlich gibt es so etwas wie gut und böse. So ist zum Beispiel das Töten von Menschen objektiv ein Verbrechen, auch wenn man etwa in der Familie Stauffenberg und bei den Beteiligten der Operation Neptune’s Spear durchaus differenziertere Positionen beziehen wird als in den Familien Hitler und bin Laden. Es geht eben um den Kontext. Kontext ist eine der wichtigsten Aufgaben, die Story uns zur Erklärung der Welt und zur Deutung des Geschehens um uns gibt: Warum passiert jetzt etwas, und wie?

Kein Antagonist, kein Böser macht etwas aus dem Antrieb, böse zu sein. Nicht einmal Hitler, nicht einmal bin Laden. In ihrem Wertesystem sind sie im Recht und tun, was in ihren Augen ihre Aufgabe ist. 

Letztlich rechtfertigt sich nahezu jeder Verbrecher mit den Umständen; damit, dass er zur Tat getrieben wurde, oder eben nicht anders konnte, weil die Umstände ihn zwangen. Der Übeltäter ist davon überzeugt: „Ich hatte keine Wahl!“ Also: Ihr habt mich dazu getrieben. Oder noch mehr: Ich bin im Recht, ich konnte nur so Gerechtigkeit wiederherstellen. Ich habe gar nichts Böses getan.

Der Böse empfindet sich niemals als der Böse. Im Gegenteil: Er meint, er tut, was er tut, aus gutem Grund. Selbst jeder Serienkiller ist davon überzeugt, dass er tut, was er tun muss, dass er dazu verpflichtet oder zumindest berechtigt ist. Und sei es aus dringend nötiger Rache.
Nur explizit geisteskranke Schurken sind davon ausgenommen, und nicht einmal die wirklich.

Ist der Joker böser als Batman?

Der aktuell in den Kinos laufende Film „Joker“ zeigt das in schöner Deutlichkeit. Erstens ist der Perspektivenwechsel eine interessante Erzählmethode (also die Backstory des Bösewichtes aus „Batman“ aus dessen Perspektive zu erzählen). Gleichzeitig ist die Geschichte in einer gespenstischen Art eine Metapher auf viele Geschehnisse in unserer heutigen Zeit und die Motivationen dahinter, wenn sich die so genannten kleinen Leute, die sich ihr Leben lang ausgenutzt, nichtzugehörig und als Clowns verlacht in Bewegung setzen und gehört werden wollen – mit ihren Methoden, die selbstverständlich nicht im Geringsten zu rechtfertigen sind.

Dennoch unterstreicht der Film in aller Deutlichkeit den guten Rat der amerikanischen Ureinwohner: Bevor man einen Menschen verurteile, möge man eine Meile in dessen Mokassins gehen. 

Der Gegner des Jokers ist die Gesellschaft – später durch Batman verkörpert –, seine innere Sehnsucht sind Aufmerksamkeit und Zugehörigkeit. Dort geschieht seine Verwandlung: Am Beginn des Films ist er ein Prügelknabe, der sich sein Leben lang fragt, ob er überhaupt existiert, am Ende ist er – … sieh dir den Film an! 

Ob gut oder böse, ob Antagonist oder Protagonist: In jeder Story und für jede Hauptdarstellerin geht es um einen Wert, der in einem Konflikt in Gefahr gerät und geschützt werden muss. Je stärker der Konflikt, je mächtiger der Gegner, je größer die Gefahr, desto besser für dich und deine persönliche Entwicklung, für deine Marke und ihren Standpunkt, für dein Unternehmen und seine Story. 

Denn egal ob Weltkonzern, ob KMU/kleine und mittlere Unternehmen oder heldenhafte Einzelkämpfer als EPU – jeder Mensch, jede Marke, jedes Unternehmen hat und braucht mindestens einen archaischen Wert und die dadurch aktivierte Story, um die sich alles dreht. Wenn du keinen magnetischen Wert als lebendiges Thema hast, bleibt dir nämlich nur noch ein einziges anderes: der Preis. Und Preis ist in diesem Fall nicht der Joker, den du spielst, sondern nur ein anderes Wort für Todesurteil mit ungewissem Vollstreckungsdatum. 

Allen, die also sagen: „Für mich und meine Marke gilt das nicht!“, seien jene Worte ans Herz gelegt, die meine Großmutter, die alte Story Dudette, als Tag unter ihre Graffiti an den U-Bahnen von Gotham City sprühte: „No Story. No Glory.“

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